Die Herausforderung: 2014–15 waren besondere Jahre der europäischen Zeitgeschichte: 100 Jahre Erster Weltkrieg, 75 Jahre Zweiter Weltkrieg, 25 Jahre deutsche Wiedervereinigung. Diese Jubiläen fielen in eine Periode, die GeisteswissenschaftlerInnen angesichts neuer, revolutionärer Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten herausfordert und unbekannte Horizonte eröffnet. Der unausweichliche Verlust der Zeitzeugengenerationen der Weltkriege verlangte danach, neue soziale Formen gesellschaftlicher Auseinandersetzung zu entwickeln, um den Alltag im “Dritten Reich” weiterhin kritisch reflektieren und gesellschaftliche Erinnerungsbilder sowie ihre Bezüge zur Gegenwart hinterfragen zu können.
Das Projekt: Hier wird ein außergewöhnlicher Briefwechsel in verschiedenen Medienformaten einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert. Das Publikum wird eingeladen, eigene Erinnerungen, Fragen und Gedanken zu den Texten beizusteuern. Eine umfangreiche Sammlung von Liebesbriefen von zwei “ganz normalen Deutschen” aus dem “Dritten Reich” ist die Grundlage einer interdisziplinären, internationalen, intermedialen,
“entschleunigten”, und ‚crowdsourced‘-basierten kritischen Auseinandersetzung mit dem Alltag im NS. Wie sind die beiden ProtagonistInnen Hilde Laube und Roland Nordhoff (Pseudonyme) mit der neuen Macht umgegangen und wie haben sie zur Gestaltung “der Verhältnisse” beigetragen?
Die Briefeschreibenden: Hilde und Roland lebten in kleinen Dörfern in Sachsen, waren gläubige Christen und im Sinne der nationalsozialistischen Gesetzgebung “Arier”. Er war dreizehn Jahre älter und wurde vor dem ersten Weltkrieg geboren; sie in der Weimarer Republik. Er war Lehrer, sie Arbeiterin. Während er als Soldat in der Kriegsmarine in Schleswig-Holstein, Bulgarien, Griechenland und Rumänien diente, blieb sie in der sächsischen Heimat.

Die Briefe: Ihr Briefwechsel befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Er umfasst 24 Aktenordner mit Briefen unterschiedlicher Länge, die insgesamt ca. 900.000 Worte umfassen. Die Korrespondenz setzt im Mai 1938 ein und endet im Februar 1946, führt also durch das Dritte Reich, den totalen Krieg und die frühe Besatzungszeit. Er verfasste seine Briefe in Sütterlin bzw. in deutscher Kurrentschrift, sie in moderner Schreibschrift. Zu Anfang ihrer Bekanntschaft schrieben sich Roland und Hilde ein- oder zweimal in der Woche, während des Krieges jedoch tauschten die beiden mitunter mehrmals am Tag Briefe aus.
Der Inhalt: Das regelmäßige Briefeschreiben handelte in erster Linie von ihrer Beziehung, aber ihre Selbstdarstellung regte sie auch an, sich gegenseitig ihre Tätigkeiten, Meinungen und Interessen zu beschreiben. Wie im Blog zu erkunden ist, kommentierten die Schreibenden eine Vielfalt von Themen: Musik, Kunst, Filme, Literatur, Theater, Glauben, Kirche, Chor, Verwandte, Freunde, Familie, Dorf, Geschlechterverhältnisse, Arbeit, Karriere, Ausflüge, Reisen, NS-Politik, Krieg, Eroberung, Vertreibung, sogar das Briefschreiben selbst. Interessant ist auch, was nur marginal diskutiert wurde — Antisemitismus, Terror, Genozid — und wie diese Themen im Briefalltag erscheinen.
Trug & Schein: Der Name des Projekts entstand aus dem Brief von Roland 16.05.1938, wo er über die damaligen Zeiten folgendes schrieb:
„Trug und Schein verhüllen die Wahrheit, alle Menschen t[ra]gen irgendeine Maske, rohe Lust und Begierde spielen sich überall frech auf, und es ist ein Glück, eine Gnade, wenn man gerade und unverbogen bleibt, wenn man den Versuchungen nicht erliegt und sich den Glauben und die Sehnsucht nach dem Guten, Echten und Edlen herüberrettet…” (Vgl. 07.05.1942)
Ihr Briefwechsel bezeugt den Alltag im “Altreich” wie auch in Teilen der von den Deutschen eroberten Gebiete Europas. Als berührende Fallstudie können sich an den Briefen neue Gespräche über Geschichte und Gegenwart entzünden.
Über den wissenschaftlichen Hintergrund des Projekts kann man sich hier informieren und Hinweise auf wissenschaftliche Literatur zu T&S gibt es hier.