
Öffentliche Geisteswissenschaften: Zunächst in den Vereinigten Staaten ausdifferenziert, hat sich die Public History in den letzten zehn Jahren auch in Deutschland etabliert. Die Geschichtswissenschaften vermitteln ihre Forschung schon lange nicht mehr nur in klassischen Formaten wie wissenschaftlichen Publikationen oder durch die Gestaltung von Denkmälern und Museen. Film, Fernsehen, Radio und das Internet sind Möglichkeiten, um das Publikum des 21. Jahrhunderts anzusprechen. Virtuelle Technologien wie das „Social Networking“ eröffnen neue Möglichkeiten einer kritischen Begegnung jenseits fachwissenschaftlicher und professioneller Grenzen.
Um diese neue Herangehensweise umzusetzen, benötigen historisch orientierte GeisteswissenschaftlerInnen nicht nur Kenntnisse in der klassischen akademischen Forschung, sondern auch praktische Erfahrungen mit digitaler Arbeit wie Archivierung, Ausstellungskunde, bzw. Öffentlichkeitsarbeit im Allgemeinen. [1] Als Folge davon verändert sich die Rolle der HistorikerInnen: Als wissenschaftlich trainierte ExpertInnen besitzen sie Kompetenzen in Fragen des Faktenwissens und des kritischen ‚Lesens‘ historischer Quellen. Sie sind aber nicht die einzigen, die Deutungen aus der Vergangenheit ziehen dürfen. „Geschichtemachen“ ist nicht nur eine Fähigkeit und Praxis aller Menschen, sondern auch eine allgemeingesellschaftliche Aufgabe. Dabei nehmen HistorikerInnen neue Funktionen als VeranstalterInnen, WegweiserInnen und BeraterInnen ein. [2]

Zu den neuen Arbeitsfeldern der historischen Wissenschaften gehörten zunächst die Digitalisierung historischen Materials und die Entwicklung neuer Technologien. [3] Viel entscheidender sind jedoch Methoden, um neue Einsichten in historisches Material zu erlangen. [4] WissenschaftlerInnen analysieren Quellen, z.B. als „Big Data“, durch „Text Mining“ oder durch „Topic Modeling“. Sie visualisieren Literatur oder Geschichte kartographisch und sie gewinnen neues Material durch „crowdsourcing“. T&S unterstützt insbesondere letzteres — eine asynchrone, kollaborative Bereitstellung und Auswertung von Briefen, bei der sich NutzerInnen am Prozess der Digitalisierung, Diskussion, Analyse und Deutung des Materials beteiligen. T&S zielt nicht auf ein vorrangig fachwissenschaftliches Publikum, sondern auf die Implementierung einer allgemein zugänglichen virtuellen Plattform. Sie soll ein kritisches, “entschleunigtes” Verstehen des Alltags im Zweiten Weltkrieg ermöglichen, an dem, vermittelt über verschiedene Medien, ForscherInnen und Laien, Studierende und Lehrende, Jugendliche und Ältere überall auf der Welt partizipieren können. Die Deutungshoheit über die Geschichtserzählung liegt somit nicht nur bei HistorikerInnen, sondern auch bei Laien. Dieses Konzept heißt “shared authority”, oder gemeinsame Autorität, und zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte T&S‑Projekt. [5]

Medienwissenschaften: Die Frage nach der Rolle von Massenmedien für eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wurde in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften wiederholt aufgeworfen. [6] Die Kritische Theorie hat die Gefahren einer “Bewusstseinsindustrie” für die Demokratie herausgestellt, die Erinnerung monopolisiert, kommerzialisiert und Geschichte wie Erinnerung in Unterhaltung transformiert. [7] Die virtuellen Technologien verändern das Feld, in dem diese Fragen nach der sozialen Konstruktion von Wissen beantwortet werden müssen. Konkurrierende Deutungsangebote und die Schwierigkeiten, das öffentliche Interesse zu gewinnen, spielen dabei eine bedeutende Rolle. Immer mehr Menschen sind in der Lage, ihr Geschichtsverstehen in der Öffentlichkeit zu formulieren und zu repräsentieren. Beispiele können in der Presse, im Rundfunk, im Internet, in Schulklassen, Universitätsseminaren, in Jugend- und Seniorengruppen oder in Sozialen Bewegungen gefunden werden. Diese neue Diversität der Ausdrucksformen birgt die Gefahr des Zerfalls in eine unüberschaubare Anzahl von Teilöffentlichkeiten.
Die besondere Herausforderung liegt darin, die Aufmerksamkeit unterschiedlicher Gruppen zu gewinnen und einen gemeinsamen Dialog zu initiieren. Jedes Kommunikationsmedium besitzt seine Stärken und Schwächen. Die Beschränkung auf ein einziges Medium geht automatisch mit Beschränkungen entweder hinsichtlich der räumlichen und sozialen Reichweite des Mediums, den Möglichkeiten der direkten oder indirekten Interaktion oder der Wechselseitigkeit von Kommunikation einher. T&S als intermediale, zugangs- und beteiligungsoffene Plattform möchte die Stärken unterschiedlicher medialer Formate miteinander verbinden. Dies geschieht auf Grundlage von Liebesbriefen – die selbst das klassische Medium zwischenmenschlicher Kommunikation sind. Die Verbindung von unterschiedlichen Medienformaten und ‑rezipientInnen schafft nicht nur Raum für eine Annäherung an den Alltag im NS, sondern ebenso an zeitgenössische Formen der Geselligkeit und Soziabilität. Dabei wird gezielt mit den Zwängen der Programmproduktion gebrochen: der Neu- Rhythmisierung von Geschichte im Takt von Dokumentationen, Infotainment, und Sitcoms. ‘Zumeist 75 Jahre später’ [siehe Editorische Bearbeitung 2.2 Veröffentlichungstempo bzw. ‑lücken] werden die Briefe im originalen Takt ihrer ursprünglichen Versendung veröffentlicht und als monatlich zusammengefasstes Hörbuch im Radio bzw. per Stream im Internet verbreitet. Ein solcher entschleunigter Zugang zur Vergangenheit folgt den Erfahrungen der zeitgenössischen Akteurinnen und Akteure, die nicht wie wir heute über das Ende des ‚Dritten Reichs‘ Bescheid wussten.

Soziale Arbeit: Letztendlich werden die unterschiedlichen disziplinären Zugänge durch die Techniken der “Rekonstruktiven Sozialen Arbeit” zusammengehalten. Sie nimmt die Entwicklungslinien der Soziologie der Chicagoer Schule [8], der Psychoanalyse, der Humanistischen Psychologie und der Familientherapie sowie die Geschichtswissenschaften, und hier besonders der Oral History [9], auf. Jakob und Wensierski sprechen in diesem Kontext von der Rekonstruktion sozialer Sinnwelten. [10] In einem kommunikativen Prozess, sei es in der Einzelberatung oder in der Gruppe, laden SozialarbeiterInnen die TeilnehmerInnen ein, die eigenen “Life records” zu erinnern und zu reflektieren. Unter „Life Records“ versteht man verinnerlichte Lebensbilder. Im Unterschied zu den chronologischen Lebensstationen werden diese subjektiv erinnert und formen eine Lebensgeschichte, die sich aus der individuellen kulturellen und sozialen Prägung eines Menschen ergibt. [11] Die auch der ethnohistorischen Mikroanalyse zugrunde liegende Erkenntnis, dass Biografie ein vermittelndes Konstrukt ist, das Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlicher Lage und individuellen Konstellationen deutlich werden lässt, hilft Sozialarbeiter/innen zusammen mit ihren KlientInnen, die Lebensgeschichten in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit wie in der individuellen Einzigartigkeit zu verstehen. [12] An der Biografie orientiertes Arbeiten mit KlientInnen ist in diesem Kontext eine aktive Konstruktions- bzw. Re-Konstruktionsleistung. SozialarbeiterInnen können Hilfestellung geben, die eigene Vergangenheit mit all ihren Kontinuitäten und Diskontinuitäten neu anzueignen, sie in die Gegenwart zu integrieren [13] und Menschen für Handlungsdynamiken und Überlebensstrategien angesichts biographischer Brüche zu sensibilisieren. Im biografischen Arbeiten und Lernen werden Menschen als Konstrukteure des eigenen Lebens begriffen und als ExpertInnen in eigener Sache anerkannt. Sie werden über die Geschichte ihres Lebens zu AutorInnen der eigenen Lebensgeschichte. [14] Schimank beschreibt die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie als Autopoesis im Sinne einer Rekonstruktion von Individualität. [15]

Die biografische Erfahrung des Nationalsozialismus ist mit direkten Erzählungen immer weniger greifbar, allenfalls noch über die Generation der sogenannten Kriegskinder. Die Erfahrungen der damals Jugendlichen oder Erwachsenen sind allerdings präsent in Selbstzeugnissen, Tagebüchern, tradierten Erzählungen und auch in den Briefen, die ja Gegenstand des Projektes T&S sind. Hier schlagen sich individuelle Lernprozesse, Identitätsbrüche, aber auch damals gültige, gesellschaftlich überformte Konstruktionen von Wirklichkeit nieder. Im Nachlesen, Nachhören und Nacherzählen wirkt die lebensgeschichtliche Erfahrung des Nationalsozialismus über die transgenerationelle Weitergabe weiter in die Gegenwart hinein. Nach Petzold müssen sozialgerontologische und geragogische Maßnahmen „deshalb darauf gerichtet sein, Kommunikation an die Stelle des verstummenden Dialogs, Gemeinsamkeit an die Stelle von Vereinzelung, Miteinander an die Stelle der Einsamkeit zu setzen.“ [16] In einer gemeinsamen Biografiearbeit, die in der Begegnung das Lernen der verschiedenen Generationen voneinander unterstützt, kommt der Gestaltung eines konstruktiven Dialogs eine zentrale Bedeutung zu. [17] Ein solcher Dialog stellt gewohnte Deutungen in Frage und ermöglicht neue Sichten. Die Moderierenden von solchen Begegnungen—„Multiplikatoren“ genannt—müssen deshalb in der Lage sein, Gruppengespräche in Gang zu bringen und zu steuern, Querverbindungen zwischen den Beiträgen der verschiedenen BesucherInnen herzustellen, für auftretende Schlüsselwörter sensibel zu sein und zentrale Aspekte des Erzählten zu erkennen und fragend zu vertiefen. Es geht um gemeinsames Erarbeiten und Teilen von Biografie [18] und um ein neues Verständnis der Geschichte des Nationalsozialismus.
![Der Führer am Erntedanktag 20. Sept. 1934 in Goslar beim Abschreiten der Front der Reichswehr Ehrenkompagnie vor der Kaiserpfalz. "Hitler schreitet Ehrenkompanie ab, Goslar," Foto Scherl Bilderdienst Berlin S.W. Deutsches Bundesarchiv, Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst - Zentralbild (Bild 183), Bild 183-1987-0313-503, herunterladen Juni 2014, http://www.bild.bundesarchiv.de/archives/barchpic/search/_1370969194/?search[view]=detail&search[focus]=1](https://info.umkc.edu/dfam/wp-content/uploads/2013/07/380718-2-1i-e1370991228756-150x150.jpg)
Das Konzept der Rekonstruktiven Sozialarbeit verbindet bei dem Projekt T&S die Briefe von Roland und Hilde mit den Erinnerungen von ZeitzeugInnen. So wird eine einzigartige Plattform zur transnationalen, intergenerationalen und intermedialen Erkundung der nationalsozialistischen Vergangenheit geschaffen. Die Aufgabe von MultiplikatorInnen ist es, einen konstruktiven Dialog zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen zu imitieren und dabei die Briefe von Roland und Hilde mit Erinnerungen und Kommentaren in ihren historischen wie gegenwärtigen Bezügen einzuordnen.
Nächstes Thema: Ethnohistorsiche Mikroanalyse.
Eine systematische Darstellung des Briefwechsels finden Sie hier.
[1] Über die Vermittlung von Geschichte außerhalb der Universitäten siehe: Jerome de Groot, Consuming History, London 2009; David Lowenthal, The Past is a Foreign Country, Cambridge 1985; Raphael Samuel, Theatres of Memory, London 1994; Sam Wineburg, Historical Thinking and Other Unnatural Acts, Philadelphia 2001.
[2] Roy Rosenzweig, David Thelen, The Presence of the Past: Popular Uses of History in American Life, New York 1998; Jorma Kalela, Making History. The Historian and the Uses of the Past, Basingstoke 2012.
[3] Feldpost im Zweiten Weltkrieg, http://www.feldpost-archiv.de/feldpost‑d.html, 11.2014; Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, http://www.univie.ac.at/Geschichte/sfn/, 11.2014; The Sophie Project: A Digital Library of Works by German-Speaking Women, http://sophie.byu.edu/, 11.2014;
[4] Public History in a Digital World – The Revolution Reconsidered, first Annual Conference of the International Federation for Public History, University of Amsterdam, 23.– 25. 10. 2014, http://ifph.hypotheses.org/, 11.2014; German Studies and Digital Humanities, German Studies Association Annual Meeting, Sessions 93 & 123, Kansas City, MO, 18. September 2014; Stephan Robertson, The Differences between Digital History and Digital Humanities, 23. May 2014, http://drstephenrobertson.com/blog-post/the-differences-between-digital-history-and-digital-humanities/, 11.2014; H‑Soz-Kult Redaktion: Editorial: The Status Quo of Digital Humanities in Europe, in: H‑Soz-Kult, 23.10.2014,<http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-2375>; Spatial Narratives of the Holocaust: GIS, Geo-Visualization, and the Possibilities for Digital Humanities, Session 29, American Historical Association, New Orleans, 3. Januar 2013; Tagungsbericht: Digital History: 13.05.2014–14.05.2014 Zürich, H‑Soz-Kult 18.07.2014, http://www.hsozkult.de/hfn/conferencereport/id/tagungsberichte-5462.
[5] Nina Simon, The Participatory Museum 2010. http://www.participatorymuseum.org/read/; Felix Ackermann, Anna Baroffka, Gregor H. Lersch (Hg.), Partizipative Erinnerungsräume Dialogische Wissensbildung in Museen und Ausstellungen, Bielefeld 2013.
[6] Theodor Adorno, Max Horkheimer, Zur Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1969.
[7] Norbert Frei, 1945 und wir. Die Gegenwart der Vergangenheit, in: Ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, S. 7–22; Wulf Kansteiner, Die Radikalisierung des deutschen Gedächtnisses im Zeitalter seiner kommerziellen Reproduktion. Hitler und das „Dritte Reich“ in den Fernsehdokumentationen von Guido Knopp, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 626–648, S. 646.
[8] Hans-Joachim Schubert, The Chicago School of Sociology. Theorie, Empirie und Methode. In: Klingemann, Carsten (Hrsg.): Jahrbuch für Soziologiegeschichte. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2007, S. 119–166; Ingrid Miethe, Biografiearbeit. Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Weinheim2011, S. 46
[9]Miethe, Biographiearbeit, S. 46
[10] Gisela Jakob und Hans Jürgen von Wensierski (Hrsg.), Rekonstruktive Sozialpädagogik. Weinheim 1997, S. 10.
[11] Wolfgang Essbach (Hrsg.), wir/ihr/sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode. Würzburg 2001, S. 61.
[12] Vgl. Cornelia Kricheldorff, Biografisches Lernen – Neuorientierung durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. In: Nachrichten Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO), 1/2005, S. 14–15; Dies., Biografisches Arbeiten und Lernen. Lebensgeschichtliche Prägungen als Ressourcen. In: Pflegemagazin 4/2005, S. 4–12.
[13] Hubert Klingenberger, Lebensmutig. Vergangenes erinnern, Gegenwärtiges entdecken, Künftiges entwerfen, München 2003; und Klingenberger, Lebenslauf. 365 Schritte für neue Perspektiven, München 2007.
[14] Vgl. Mandy Aftel, The story of your life. Becoming the author of your experience, New York, 1996; Herbert, Gudjons, Marianne Pieper, Birgit Wagener-Gudjons, Auf meinen Spuren. Das Entdecken der eigenen Lebensgeschichte, Reinbek bei Hamburg, 1986.
[15] Uwe Schimank, Biographie als Autopoiesis – eine systemtheoretische Rekonstruktion von Individualität. In: Brose, Hanns-Georg & Hildenbrand, Bruno (Hrsg.): Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende. Biographie und Gesellschaft, Bd. 4. Opladen, 1988, S. 55–72.
[16] Hilarion Petzold, Exchange Learning – ein Konzept für die Arbeit mit alten Menschen. In: Petzold, Hilarion (Hrsg.): Mit alten Menschen arbeiten: Bildungsarbeit, Psychotherapie, Soziotherapie. Band 57, Reihe Leben lernen, München 1985, S. 79.
[17] Jürgen Sehrig, Befremden, Anerkennung und Selbsterkundung. Interviews zur Mitbeteiligung und Faszination im Nationalsozialismus, Konstanz: 2013.
[18] Johanna Kohn, Ursula Caduff, Erzählcafés leiten. Biografiearbeit mit alten Menschen. In: Haupert, Bernhard/Schilling, Sigrid/Maurer, Susanne (Hrsg.): Biografiearbeit und Biografieforschung in der Sozialen Arbeit. Beiträge zu einer rekonstruktiven Perspektive sozialer Professionen. Bern 2010, S. 211 f.