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[OBF-420331-001-01]
Briefkorpus

Dienstag, den 31. März 1942

Herzensschätzelein! Meine liebe, liebste [Hilde]!

Laß Dir heute zuerst etwas von dem Büchlein erzählen. Es rührt an Probleme, die die Menschheit schon immer beschäftigte und wohl allzeit beschäftigen wird, die auch nie restlos gelöst werden können, die Fragen nach dem Leid und der Not in diesem Leben. Diese Fragen lassen sich unmöglich auch nur umreißen in einem Bändchen wie dem vorliegenden, geschweige denn beantworten – das ist der erste Vorwurf, den man gegen dieses Büchlein erheben muß. Es ist wenig gründlich, und um es vorweg zu nehmen, zerfahren und verworren dazu in seinen Gedankengängen. Ich will versuchen, die Unzulänglichkeit der Lösung aufzuzeigen.

Dieses Büchlein will ja eine Anweisung sein zu einem Leben mit weniger Not, zu einem harmonischen, durch keine Not gestörten Leben.

Ich stelle erst einmal die These des Verfassers auf: „Die Arbeit des Lebens ist eine zweifache, eine aufbauende und eine zerstörende. Alles, was ist, kehrt wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück. Not ist Störung des geregelten Ablaufes der Lebensarbeit. Es ist wichtig, der Not im Menschenleben nachzuspüren und die Mittel aufzuzeigen, unnötige Not nicht aufkommen zu lassen. Wenn Not schon ein Bestandteil unseres Lebens ist, wollen wir mit ihm rechnen und mit ihm fertig werden. Ungewißheit, drohender Verlust eines Besitzes, Konflikte, Krankheit bringen uns Not, Geistes- und Nebennöte gehen den Menschen hart an, Vorwurf und Schuld sind Hemmungen. Das Empfinden einer Not ruft nach Ausgleich, nach Harmonie. Die meisten Nöte schaffen sich die Menschen selbst. Wieviel Möglichkeiten hat der Mensch, Not von sich abzuhalten, wieviel Lebenszufriedenheit wird er sich noch erobern! Wer die organisierende Kraft der Liebe (zum Leben) in sich trägt, wer sich eins fühlt mit Menschen und Welt, bleibt frei von neurotischer (seelischer) Not (!!!). Wer das Leben in seinem naturgesetzlichen Ablauf liebt, dem schafft es Harmonie. Es gibt ein Maß in allen Dingen, einen Mittelweg. Der Mensch kann wählen zwischen „gut" (Harmonie) und „böse" (Not); er kann es nicht, wenn Leidenschaft ihn bestimmt. Warum schaut der Mensch nicht in sich selbst, daß er seine Fähigkeiten prüft und erkennt, was er sich selbst zutrauen kann? Ungetrübter Instinkt, dazu klare Sinne verwehren der Not den Einlaß."

Der Verfasser sieht nur ein ganz bestimmtes Leben, das animalische Leben, den Lebensablauf, die Lebensarbeit; das Leben, das wir mit Tier und Pflanze gemeinsam haben, das unter dem ewigen ehernen Lebensgesetz der Vergänglichkeit steht und doch in seinem Kreislauf ewig erscheint. Dieses Leben ist verschwenderisch, unverwüstlich, im Einklang mit sich selbst. Dieses Leben, dieser Lebensablauf kann gestört werden und gefördert. Gestört durch das Zuviel und Zuwenig an leiblichen Genüssen, durch Überspannen der körperlichen und geistigen Kräfte - es kann gefördert werden durch di[e] Erkenntnisse unsrer Naturwissenschaften, durch die Kunst des Arztes. Die Nöte dieses Lebens können gemildert, verringert werden. – Es entgeht dem Verfasser aber ganz, daß ein anderes Prinzip, ein Leben auf ganz andrer Ebene und Stufe im Menschen wirkt, aus dem die wahren und großen Nöte dieses Menschenlebens kommen, er übersieht ganz den Willen der menschlichen Persönlichkeit, den Schöpferwillen im Menschen, die ewige Unruhe im Menschen, den Kampf mit der Vergänglichkeit dieses Lebens, mit der Unzulänglichkeit, das, was im Menschen nach Ewigkeit drängt, was ihn in Widerstreit bringt zu diesem be Leben, was ihn zerworfen und zerfallen macht in mit diesem Leben, was uns diese Erde gar als Fremde erscheinen läßt.

Tritt mit dieser Anweisung zum zufriedenen Leben zwischen die kriegführenden Parteien! Nach dieser Anweisung wahr war Christus ein schlechter Lebenskünstler, und alle Menschen, die es sich blutsauer werden ließen in diesem Leben. Nach dieser Anweisung lebten wir heute noch im Busch wie die wilden Völker, naturnahe, instinktsicher, mit natürlichem Verstand; gäbe es keine Naturwissenschaften, die diesem Leben Hilfen bringt [sic][.] Nein, nein! Diese Erde und ihre Menschen wird [sic] von Leidenschaften bewegt, von Willensregungen, von der leisesten bis zur unbändigsten. Wo bleiben Ehre, Treue, heilige Ordnungen, Leidenschaft, Wille, Kampf gegen diese Vergänglichkeit, Ringen und Suchen nach Wahrheit, Gerechtigkeit, wo bleibt die Tragik dieses Lebens, die erst ihre ganze seine ganze Größe ausmacht?

Der Verfasser hat dafür nur das Wort Störungen, Hemmungen, neurotische Not, vielleicht sogar unnötige Not. Es wirkt geradezu grotesk. Wenn man will, kann man in Ehre, Treue, Tugend, Wahrheits- u. Gerechtigkeitsliebe Verkrampfungen, Erstarrungen dieses Lebens sehen so wie ein Kristall, und in den Menschen, die dieses animalische Leben opfern im Verfolg dieser Wahrheit und Gerechtigkeit usw., vielleicht schwache oder unfähige Menschen - aber dann hat man sich auf die Seite des Fellachen, des faulen [L]ebens oder der Tiere gestellt.

Und der Verfasser tut das auch. Was sagt er zu Gott? „Das Prinzip des Guten und Bösen haben nach menschlicher Annahme ihren Ausdruck gefunden in Gott und Teufel. Da erwuchs für den Menschen die Forderung, sich entsprechend zu diesen Gebilden einzustellen; denn am Ende hängen wir doch ab von Kreaturen, die wir machten (Zitat aus Faust)". Herabgezogene Mundwinkel, das ist alles.

Er sieht nicht den großen[,] göttlichen Willen, der dem Willen im Menschen verwandt ist.

Was sagt er zu der Tragik im Leben Gretchens? „Eine zeitgeistige moralische Auffassung wirkt sich aus. Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen." (nur ein wenig anders, als der Herr Stadelmann sich das träumen läßt.)

Schuld, so sagt er an andrer Stelle, ist ein psychiatrischer Begriff, also eine Art Geisteskrankheit, Geistesgestörtheit.

Nein! So wird man diesem Leben nicht im mindesten gerecht. Vielleicht einmal in 100 Jahren, wenn der schöne K.d.F. - Tod erfunden worden ist. Aber Spaß beiseite.

Also, der Verfasser verkennt vollkommen dieses andere Leben, diese andere Welt, die Welt der geistigen Ordnungen und Werte, er spricht ihnen womöglich ihre Existenz und Wirklichkeit ab, nennt sie womöglich Einbildungen und Krankheiten. Für ihn ist das gesunde Leben im Einklang mit dieser Welt, frei von Not.

Oh Herzelein! Auch wir beide würden vor ihm nicht bestehen mit unsrer Liebe, unsrer Treue, unsrer Sehnsucht. „ Warum gebt ihr nicht nach? Warum paßt ihr euch nicht an? Wenn ihr das Eine nicht haben könnt, warum langt ihr nicht nach dem andern? Warum Not? Warum Schmerz? Warum Eigensinn und Leidenschaft? Macht es euch doch nicht so schwer!" So würde er vielleicht raten. Und wir? Du und ich? Ein Leuchten stünde in unseren Augen, ein Strahlen wie von einem Kristall, Flamme der Liebe, der Leidenschaft! Und wir hielten uns so fest, sooooooooooooo fest – eins, ewig eins für dieses Leben – treu, ewig treu – bis in den Tod! * Not dies? Vielleicht ein „Ablauf dieses Lebens". Aber Glück des Herzens! Herrlicher Sieg der Liebe, der Treue!!!

Und dieses Leuchten ist um alle großen Schicksale, um alle Tragik. Die Welt der Ordnungen und Werte erst verleiht dem Menschenleben Größe und Würde – sie bringt freilich auch die großen Nöte, den Widerspruch, die Disharmonie in unser Leben und das Sehnen nach Erlösung. Kampf und Not ist dieses Leben. Wer wollte daran vorbeisehen? Und aus einem guten Leben schaffen wir sie nicht beiseite, weder mit Klugheit, noch „natürlicher Vernunft"[,] noch Instinkt. Der Verfasser kündigt eine Art Lebenspazifismus an. Der ist nur möglich auf Kosten der Höhe und Güte dieses Lebens.

Nein! Dieses Leben ist voll Not (die kleinen Nöte des Alltags sind darunter nicht verstanden), ist Kampf dem, der sich ihm nur stellt.

Und so hören wir heute oft verkünden: auch dieses Kämpfen ist ein Gesetz dieser Welt, ein ewiges, ehernes Gesetz.

Der Christ bejaht das Leben mit seinem Kampf, mit seiner Not, er schaut ihm gerade und nüchtern entgegen. Aber er sieht darin nicht ein kaltes, starres Gesetz, ein blindes Walten, eine unpersönliche Macht, furchtbar und schrecklich in ihrer Unerbittlichkeit, vor der alle Persönlichkeit zunichte würde – er sieht dahinter das Walten Gottes, einer Person mit einem Willen, voll liebenden Erbarmens mit den Menschen, sie beschenkend, begnadend mit mancherlei Gaben. Der Christ sieht nicht nur ein großes erhabenes ewiges Gesetz, er sieht den Thron Gottes, des Allmächtigen, Allgütigen, Ursprung aller Persönlichkeit, aller Werte und heiligen Ordnungen in dieser Welt. Er erkennt neben dem unpersönlichen „Es" der Gesetze des  menschlichen Lebens (es regnet, es schneit, es blüht, es welkt) die Liebe Gottes. Wir sind durch Christus erlöst von der Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit dieses Lebens, erlöst von der kalten erdrückenden Furchtbarkeit eines ewigen Gesetzes, eines ewigen Kreislaufes. Unser Leben mündet in Gott. Christus überwand den Tod, er nahm ihm den Stachel, er triumphiert über die Vergänglichkeit dieses animalischen Lebens, dessen Ende der Tod ist. Durch Christus haben wir einen Zugang zum Vater.

Der Verfasser ist Biologe. Biologie ist die Wissenschaft vom Leben, und zwar vom animalischen Leben, vom Lebensablauf zwischen Geburt und Tod. Biologie der Pflanzen, Tiere und Menschen gibt es. Von dieser Bilo Biologie und ihren Gesetzen her sieht er dieses Leben. Damit kann man ihm aber nie gerecht werden; in seiner Fülle und Vielgestalt und in seiner Persönlichkeit, in seinen Wallungen und Strebungen, entzieht sich das Menschenleben dem Schema dieser Gesetze. Das Göttliche in uns folgt anderen Gesetzen! „Der Glaube gibt Sonne ins Herz und Eisen ins Blut", so sagt Hofprediger Kepler. Der Glaube gibt auch ungeahnte Kräfte. „Ich bin nicht in der Welt, um es gut zu haben, sondern um gut zu werden." "Nicht im Glück, sondern im Charakter liegt der Wert des Lebens". In seinen Beispielen erkennt der Verfasser, wie die Menschen der Not ausweichen, wie sie sich darüberhinweghelfen, wie sie einen Ausstieg suchen. Diese Beobachtungen mögen gelten in den kleinen Nöten des Lebens. Sowohl in der Gewalt und Beharrung dieses Lebensablaufes liegt dieses Streben nach Ausgleich und Gleichförmigkeit – wir Menschen vergessen allzuleicht, schnell vernarben die Wunden, es wächst schnell Gras über eine Sache - Gesundheit des animalischen Lebens. Aber liegt in dieser Gesundheit und Beharrung  nicht gerade auch alle Vergänglichkeit und Einfältigkeit dieses Lebens, gegen die alle Leidenschaft des Menschen sich aufbäumt, gegen die alle Persönlichkeit sich auflehnt? Ist es nicht schrecklich, dass die Lücke, die der Tod riß, sogleich wieder ausgefüllt wird, dass die Wellen des Lebens sofort wieder darüber zusammenschlagen – versunken und vergessen? Liegt nicht aller Wert und alle Größe und alle Würde dieses Menschenlebens in dem Einmaligen, Unersetzlichen seiner Persönlichkeit - darin, daß es einmalige Spuren und Bahnen zieht? Und sei es, daß wir nur einem geliebten Menschen unersetzlich sind!

Oh Geliebte!!! Es wehrt sich etwas in uns gegen die „Gesundheit" dieses Lebens – es ist die Sehnsucht nach der Ewigkeit.

Herzallerliebste! Meine H[ilde]! Ob Du mir denn gefolgt bist? Nun wirst du mir ja auch sagen müssen, wie Du zu dem Büchlein gekommen bist. Geliebte! Du magst erkennen, wie es mich angeregt hat und doppelt angeregt hat, wie Du mir es unterbreitest, gleichsam fragend. Du Herzelein! Wie sehne ich mich doch nach solchem Austausch, solchem lebendigen von Herz zu Herzen. Ich habe es Dir schon gestanden, daß Du soviel Klarheit in mein Leben gebracht hast damit, daß ich mich angerührt fühlte, Dir Rechenschaft zu geben und auszuschauen nach unsrem Weg. Oh Herzelein! Wie glücklich bin ich, daß ich Dich führen darf und Du Dich meiner Führung anvertraust. Du! Du!!!!! !!!!! !!! Ich danke Dir auch für die Anregung dieses Büchleins, ganz sehr. Herzelein! Die kleinen Nöte, durch die sich viele Menschen ihr Leben beschweren und verbittern und vergällen, lassen wir nicht aufkommen. Wir lassen uns den Blick nicht beengen und verdüstern durch kleinen Neid, durch kleinen Ehrgeiz, in denen viele Menschen befangen sind. Und es ist ihnen meist nicht zu helfen darum, weil sie nicht aus ihrer Haut können. Frei, gerade und offen ist unser Gang und Blick und unser Sinn, wir lieben die Klarheit  und wir trachten danach zu erkennen, was wirklich nottut in diesem Leben, was darin nebensächlich und wesentlich ist. Wir lassen uns nicht verstricken in den Netzen der mancherlei Bosheiten und Häßlichkeiten der Mitmenschen. Tapfer und mutig und Gott vertrauend wollen wir durch dieses Leben gehen. Ohne dieses Gottvertrauen und Wissen um Gottes Gnade freilich kein Mut, kein Sinn, keine Klarheit.

Oh Geliebte! Ich weiß Dich glücklich an meiner Seite! Gott schütze Dich allerwegen! Er segne uns dieses Leben und führe uns recht bald für immer zusammen! Ich habe dich sooo lieb, sooooooooooooo lieb. Du! Mein ganzer Reichtum! Mein Ein und Alles! Mein Leben! Mein einziges, unersetzliches, geliebtes Weib! Meine [Hilde]! Mein! Mein!!!

Ich liebe dich! Ich bin Dein

ewig Dein [Roland]

Ich küsse Dich herzinnig! Du, allerliebstes Herzensschätzelein!

Verlebt ein recht frohes Osterfest.

Viele liebe Grüße und Wünsche auch den lieben Eltern!

 

* wir haben keine andere Wahl [*]

 

[* = dieser Zusatz wurde vom Autor an den unteren Seitenrand der vierten Briefseite geschrieben und bezieht sich auf ein Sternchen als Einschub im Text]

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946