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[OBF-411130-001-01]
Briefkorpus

[Saloniki] Sonntag, den 30. November 1941

Mein liebes, teures Herz! Geliebte, Holde mein!

Herzelein! Im Adventsgottesdienst war ich heute. Wir waren eine Gemeinde von etwa 50 Personen, darunter 3 Blitzmädels, 2 Rotkreuzschwestern. Tannengrün und Kerzenschein deuteten auf die Besonderheit des Tages! Ich war nicht ganz zufrieden mit der Predigt. Der Geistliche (nicht Herr S.) sprach zwar entschieden, blieb aber an der Oberfläche. Und es ist doch nichts wichtiger in unseren Tagen, als die wenig gläubigen Menschen ganz sicher und gewiß zu machen, gegen jeden Anwurf zu feien, sie gegen jeden Zweifel und jede Versuchung fest zu machen. Der Geistliche darf in unseren Tagen nie müde werden, immer wieder ganz tief zu schürfen, die entscheidenden Fragen zu stellen und zu beantworten und so den Glauben ganz fest zu verankern und die Bedeutung und Größe unsres Glaubenserbes deutlich bewußt zu machen. Den Gewinn kann auch eine geringere Predigt haben, daß sie uns anregt nachzudenken und zu überlegen, wie sie hätte besser sein können. Welches ist die ganze Bedeutung und Größe der Sendung des Gottessohnes? Worin ruht die ganze Freude des Adventes und der Weihnacht?

Bedeutet sie wirklich so viel? Ist sie wirklich der Eckstein unsres Lebens? Kann sie überhaupt noch bestehen neben den bedeutsamen Ereignissen und Schicksalen unsrer Tage? Muß sie nicht einmal überflüssig und bedeutungslos werden?

Man sollte meinen, daß die Menschen unsrer Tage empfänglicher dafür wären denn je: Das Dunkel und die Finsternis unsres Erdendaseins, die ganze Bosheit der menschlichen Kreatur, die Gewalt der zerstörenden Kräfte, die ganze Zerfahrenheit, Ziellosigkeit, Unvernunft, Blindheit menschlichen Strebens, der Menschheit ganzer Jammer wird wieder einmal kund und offenbar.

Wo ist das Recht? Worum geht es? Wo ist das leuchtende Ziel, dem soviel kostbares Leben geopfert wird?

Viele Auskünfte werden uns auf diese Frage. Wir sehen kein leuchtendes Ziel. Sehen nur mit Schrecken die Sprachverwirrung, die Lieblosigkeit, die Enge menschlichen Trachtens. Dieser Krieg wird neue Kriege nach sich ziehen. Und wofür man heute kämpft, das wird morgen bekämpft werden.

Das Leben ist ein Kampf. Kampf der Naturgewalten, der Pflanzen, Tiere und Menschen untereinander und gegeneinander. Wer das nicht sehen will, ist blind. Aber wer an dieser Feststellung sich genügen läßt und mit diesem Zustande sich zufrieden und einverstanden erklärt, ist ein Mensch ohne Herz. Uns Menschen wurde die Gabe des Bewußtseins. Auch die Tiere lieben und leiden. Aber nur der Mensch liebt und leidet mit Bewußtsein. Liebe wohnt unter den Menschen: Mutterliebe, Gottesliebe, Freundesliebe. Und Liebe bed[in]gt Leiden. Wo Liebes uns genommen wird, dort leiden wir. Und das Leid stellt uns die Frage nach dem Warum des Leidens, nach Schuld und Sünde, nach dem Sein dieser Welt und des Lebens. Und diese Fragen weisen über die Welt hinaus auf Gott.

Und Gott sah die Ausweglosigkeit, die Richtungslosigkeit, das Irren, das Leiden der Menschen. Er erbarmte sich unser, indem er seinen Sohn sandte und uns den Weg wies zu Sinn und Erlösung dieses Lebens.

Warum erkennen die Menschen die Bedeutung und Größe dieser Tatsache nicht? Warum drängen sie sich nicht nach der Gn[ad]e Gottes? Warum hungern und dürsten sie nicht nach der Liebe Gottes? Weil so wenig Liebe unter ihnen selber wohnt. Weil sie gar nicht mehr so liebgewinnen, auch der Mann nicht sein Weib. Weil sie darum auch nicht die ganze Tiefe des Leides erfahren und darum nicht mehr fragen. Weil das Leben verflacht, weil der Mensch stumpf wird. Ich sehe keine andre Antwort auf diese Frage. Weil die Güte unter den Menschen immer seltener wird, erkennen sie auch nicht mehr die Güte Gottes, drängt es sie nicht mehr zu Lob und Dank.

Unsre Zeit will Helden sehen, Helden auf allen Gebieten, Helden des Sportes, des Films, Kriegshelden auch, Rekordmenschen. Und wie sie die Helden verehrt, vergöttert, so berauscht sie sich an sich selbst, sie vergöttert sich. Es ist keine tiefe Verehrung. Heldentum ist der höchste Wert unter den Menschen. Im Heldentum gipfelt menschliche Größe und mit recht wird es geehrt und zum Vorbild erhoben. Der höchste und lauteste Ruhm unter den Helden ward immer noch dem Krieger. Heldentum ist nicht nur Kraftmeiertum und Berserkermut, sondern zum Heldentum gehört auch, daß Mut und Tapferkeit an etwas Hohes gewandt sind, Recht, Wahrheit, Ehre, Vaterland. Jesus Christus? Wer ist das? Trägt er das Ritterkreuz? Wo sind seine Leistungen? So fragt man vielleicht und geht spottend und lachend vorüber. Aber das will nichts sagen, alles menschliche Heldentum ist groß nur gemessen an irdischen Maßen. Menschliches Trachten und Zielen ist hinfällig, vergänglich ist der Ruhm. Worum Helden früher ihr Leben einsetzten, es gilt heute längst nicht mehr, was sie verfochten, ist längst vergessen oder überholt, bedeutungslos heute. Menschliches Heldentum ist irdisches Licht, Licht von Lampen und Laternen, das verblaßt vor dem Schein des himmlischen Lichtes der Sonne.

Auch Christus kämpfte. Er leerte den Becher menschlichen Leidens bis auf den Grund. Er fühlte wie kein andrer Mensch je der Menschheit ganzen Jammer. Er erlebte die ganze Dürftigkeit unsres Menschenlebens. Er sah dieser Welt und ihren Menschen ins Herz, ins schwache, zage Herz. Er begegnete allem Hochmut, Starrsinn, Blindheit, Vermessenheit, Herz- und Lieblosigkeit – er schaute alle Schuld und Sündhaftigkeit, und ermaß auf der anderen Seite die Armut, Elend, Krankheit, Jammer unseres Lebens. Sein Kampf galt nicht kleinen Eroberungen, kleinen Streitigkeiten, die doch morgen gegenstandslos wären – und darum durfte er auch nicht zur menschlichen Waffe des Schwertes greifen – sein Kampf weist über das Irdische weit hinaus, weit hinaus über ein Menschenalter, es umspannt Weltbedeutendes, Ewiggültiges, Zeitloses. Er war ein Streiter Gottes, er litt und starb für die Menschheit. Er durchschritt alle Höhen und Tiefen dieses Lebens, der Liebe und des Leides größte Tiefe.

Eben weil er liebte über alle menschlichen Begriffe, ward er befähigt zu tiefstem Leiden und Erbarmen. Wer Liebe nicht kennt und erfuhr im eigenen Leben, wem Herzensgüte unbekannt ist, wird diesen Kampf nimmer begreifen und verstehen. Mit Christus kam in dieses Leben das Himmelslicht, die Liebe Gottes. Die Liebe Gottes gleicht der Sonne. Unzählige Lichter zünden wir Menschen täglich an. Aber sein Licht läßt sie alle verblassen, ein Licht ist, von dem wir alle Leben und abhänge[n], zu dem wir alle aufschauen müssen, das alle Blicke auf sich zieht und von allen gesehen wird, das Himmelslicht der Sonne. Gottes Liebe gleicht diesem Licht. Christus ist die Sonne, nach ihr wollen wir uns recken und richten. Kein Erdendunkel vermag sie zu verdunkeln. Kein Mensch kann sie verrücken, keine menschliche Bosheit und Niedertracht kann sie auch nur anrühren oder verwünschen. Kein menschlicher Hochmut kann sie unentbehrlich machen.

Der irdischen Menschenliebe zwischen Mann und Weib und Kindern und Freunden entspringt die große, unendliche Gottesliebe, von der Christus zeugte in seinem Leben und Künden.

Was ist unser Leben ohne Liebe? Ohne die Liebe unsrer Eltern? Mein Leben ohne Deine Liebe? Oh Du! Du!!! Die Liebe ist der Schoß, der Hort allen Lebens. Herzelein! Du bist mein Leben!!! Und was wäre Menschenleben ohne die Liebe Gottes? Es wäre trostlos, sinnlos, ausweglos, abflußlos wie ein Sumpf, Finsternis, Dunkel, Tierheit.

Die Botschaft Christi von der Liebe Gottes ist die gewaltigste, die je zu dieser Erde gebracht wurde. Sie gleicht einer zweiten Schöpfung, da uns Menschen die Sonne am Himmel aufging, da wir ein Verhältnis zum Himmel, einen Weg zu Gott dem Vater gewiesen bekamen.

Geliebte! An all diesen Gedanken läßt mich nichts mehr zweifeln. Sie sind uns, auch Dir, freudige Gewißheit. Sie bringen auf diese Erde die schönste, reichste, seligste Freude, so wie sie in unseren Weihnachtsliedern glänzt und schimmert.

Herzlieb! Zu diesem Glauben hat mir die Liebe zu Dir kräftig vorwärtsgeholfen. Sie brachte mir Klärung. Und nun erhalte ich selber die Liebe. Sie ist uns so reich und wundersam erblüht! Sie hat uns ganz entflammt und durchdrungen! Sie ruft alle guten Kräfte in uns auf. Oh Geliebte! Wir sind ganz von ihr erfüllt. Wir möchten nicht mehr ohne sie leben. Wir erkennen sie als Geschenk des Himmels! Wir erleben mit ihr Gottes Liebe und Gnade. Oh Herzelein! Ich ging so lange ohne Liebe! Ohne die Liebe, die mich ganz erfüllte. Ich hielt mich an die Liebe zu der Welt um uns, zu ihren Schönheiten, zu den Künsten. Aber Herzelein! Diese Liebe erlöst nicht. Sie gibt nicht Raum der Liebesglut, der Zärtlichkeit, in ihr ist nicht die Seligkeit des Vermählens und  Einsseins und die Traute der Heimat. Es mag Menschen geben, die an dieser Liebe, des einsamen, Genüge finden. Ich kann es nicht. Oh Herzensschätzelein! Daß Du mir geschenkt wurdest. Daß die Liebe so heiß in uns brennt, daß sie alles einschmilzt in ihrer Glut, daß sie uns zusammenschmilzt und -glüht zu einem Paar!!! Ich bin so unendlich glücklich darum. Daß ich Deine unendliche Liebe gewann in dieser liebesleeren, liebesarmen Zeit - und daß ich nun Dich lieben darf – daß der Strom der Liebe befreit wurde – das ist das Köstlichste auf dieser Welt.

Herzensschätzelein! Es ist jetzt ½ 6 Uhr. Kamerad H. ist heute Schreiber vom Dienst. Wir wollen ihn abholen und dann miteinander den Tag mit einer Einkehr im Soldatenheim beschließen. Morgen erzähle ich Dir davon. Ich denke Dein so froh und glücklich, und auch so voll Sehnsucht! Du! Ich hab dich doch ganz liebhaben müssen, Du!!! Du!!!!! !!!!! !!! Sei froh mit mir! Ich liebe, liebe Dich sooo sehr!

Ewig Dein [Roland]!

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946