[Saloniki] Mittwoch, den 22. Oktober 1941
Mein liebes, teures Herz! Geliebte, Holde mein!
Dein lieber Bote ist noch immer ausgeblieben. Wir wissen hier auch, was schuld ist an der Verzögerung. Leicht, daß auch die Post nach der Heimat darum Verspätung erleidet. Mach[‘] Dir also keine Sorgen.
Allein bin ich heute abend. Kamerad K. ging ins Kino. Er braucht Zerstreuung. Er schreibt zumeist in der Mittagspause. Wir verkommen [sic] sehr gut miteinander. K. [sic] ist ein komplizierter Mensch, Stimmungen und Launen unterworfen. Leicht ist er verärgert, und der Ärger verfolgt ihn lange. Leicht ist er aus seinem seelischen Gleichgewicht zu bringen. An einem Tadel von Vorgesetzten oder einer Zurücksetzung durch Kameraden „zehrt“ er lange. Dann bedarf er des Zuspruchs. So ist er immer in Bewegung. Eines Tages war er ganz unglücklich, daß die Kameraden unten ihn nicht mit ins Gespräch gezogen hatten. Man hatte sich darüber unterhalten, welches wohl die interessanteste Stadt sei, in der man am meisten „erleben“ könne. Da habe ich ihn mal daraufhingewiesen [sic], wieviel, welche Kluft uns von den meisten Kameraden trennt.
Unter K.s Mitarbeitern sind gerade ein paar, die sich gern den Anstrich von Bildung geben, die aber nicht spüren, daß sie größte Unbildung damit dokumentieren, daß sie gewisse Häuser aufzusuchen sich nicht scheuen. Kamerad K. selber hat das Abitur. Sein Vater war Reichsbahninspektor, sein Großvater väterlicherseits Klavierlehrer, mütterlicherseits Pfarrer, sein Schwiegervater ist Lehrer. Das habe ich ihm vorgestellt. Zur Bildung gehört auch ein Grad der Gesittung, ein Ausrichten an allen hohen Werten. Zu den ’Errungenschaften‘ einer gehobenen Kultur aber gehört auch die Form der Einehe, gehört auch ein Verhältnis zu Gott. Gehört ganz allgemein ein Leben in Züchten, ein Leben, daßs leidenschaftlich sich allem Guten zuwendet, das aber auch Herr ist aller Widerstände und Hemmungen gegen allen Unwert. So wie ein Fahrzeug nur gut in Form ist, wenn Schwungkraftund Bremsengut sind, so ist auch der Mensch nur in Form, der sich so in der Gewalt hat.
So haben sich schon einigemale [sic] recht fruchtbare Debatten ergeben. Kamerad K. war gestern mit auf dem Begräbnis, und zum Abendbrot kam die Rede auf die Worte des Pfarrers und den Seelenglauben überhaupt. Pfarrer Sch. hat übrigens die Rede gehalten. [Ich] Will sehen, daß ich am Sonntag mal zum Gottesdienst komme und ihn dort treffe.
Kamerad K. hat kaum ein lebendigeres Verhältnis zum Glauben. Er steckt in einem bequemen Mißtrauen gegenüber diesen Dingen – und dieses Mißtrauen ist ein Stück seiner Natur überhaupt, oft genug mißtraut er sich selbst. Er sieht den Himmel nicht, und an die himmlischen Kräfte legt er irdische Maßstäbe. Es ist sehr schwer deshalb, mit ihm sich von Glaubensdingen zu unterhalten.
Nachdem ich ihn aus seinem stumpfen Verharren doch ein wenig aufgescheucht hatte, sag sank er doch wieder zurück mit den Worten: „Ja, die mögen wohl gut daran sein, die so glauben können“. Und darin schwang ein ganz klein wenig Ironie. Ich antwortete ihm darauf: Das ist freilich eine müde Antwort. Wenn Du ein Kerl wärest, würdest Du sagen, jetzt will ich mich aber schleunigst aufmachen und mich darum kümmern, was and[e]re so glauben, und wollte dann diesen Glauben annehmen und für ihn eintreten – oder ihn bekämpfen.
Mit dieser Antwort gab er mir recht.
Sieh, Herzlieb! Diese Lauheit im Glauben ist bei den meisten Menschen. Und diese Lauheit ist ihre Natur überhaupt. Es sind nur wenige, in denen noch die Fähigkeit zur Leidenschaft lebt, zu einer rechten ^echten Leidenschaft auf irgendeinem Gebiete lebt und damit auch die Begeisterungsfähigkeit für die Leidenschaft und die Größe und den Kampf eines anderen Menschen. Am lebendigsten ist in uns[e]rer Zeit noch die politische Leidenschaft, am wenigsten versteht man die Leidenschaft auf dem Gebiet des Sittlichen und Religiösen.
Welch[‘] große, gigantische Leidenschaft ist in dem Leben und Leiden unseres Herrn und Meisters – in seinem Kampf für die Wahrheit, in seinem Werben um die Herzen der Menschen, in der Geradlinigkeit seines Weges – Leidenschaft um das Höchste, das Heil uns[e]rer Seele; Leidenschaft, die in seinen Worten ebenso schlichten wie gewaltigen Ausdruck fand! Leidenschaft, deren Glut nie verlöschen wird, solange diese Erde steht, die Menschenherzen immer wieder zum Himmel reißen wird!
In aller guten Leidenschaft ist ein Strahl des Himmels, ist Gläubigkeit, ist Hingabe, ist Wille zum Hohen, zum Ganzen.
Herzlieb! Du!! Wir dürfen Gott danken, daß uns[e]re Herzen geöffnet sind solchem Strahl des Himmels, daß sie fähig sind solcher Hingabe. Geliebte! Du!! Leidenschaft ist auch in uns[e]rer Liebe! Ganz wollen wir einander gehören! Ein Ganzes soll uns[e]re Liebe sein, und uns[e]re besten Kräfte sollen ihr zufließen. Nie können wir uns ganz in dem Kleinkram und Irrgarten des Alltags verlieren. Du und ich, wir müssen beide nach dem Himmel schauen, nach den Schönheiten am Wege, müssen nach allem Hohen und Erhabenen spüren – ich bin sooo glücklich darum, daß Du mir darin ganz gleichgesinnt bist! Und diesen Sinn wollen wir einst auch unseren Kindern schenken, es ist die beste Mitgift für dieses Leben, der beste Wegweiser und Kompaß. Dem ist die Welt dann so weit und groß und reich, für den ist sie voller Aufgaben.
Nicht immer sehen wir diese Welt so weit. Verhangen ist der Himmel oft, zudringlich werden die Sorgen um das nächste. Aber sie können uns nicht erdrücken.
Geliebtes Herz! Alle Schönheit am Wege, Größe und Erhabenheit dieser Welt, der Strahl des Himmels: ich kannte sie wohl schon, ehe ich Dich fand. Aber nun erst, Geliebte, da Du an meiner Seite gehst, kommt mir aus allem die rechte Freude und der Mut zum Leben! Menschen bleiben wir trotz allem. Menschen, die sich vor der Kühle und Größe und Weite des Himmels verbergen müssen im Dunkel der Heimlichkeit. Menschen, in denen wie in der Mutter Erde selber, irdische Glut ist. Ach Geliebte! Mit der Sehnsucht nach dem Geschwister, nach Mann und Weib! Wir sind auch dieser E[rd]e verhaftet. Nur ein Hochmütiger und Irrer könnte das übersehen. Und Du und ich – wir sind nicht traurig darum! Weil wir um Gottes Gnade wissen, können wir uns eins fühlen mit unserem Schicksal.
Herzallerliebste! Heute werden Deine lieben Boten kommen. Wie ich mich darauf freue!!! Es ist die größte Freude, die mir hier in der Fremde swerden kann! Von Dir kommt alles Glück, aller Sonnenschein in meinem Leben!
Mein Herzensschatz! Mein Ein und Alles! Mein Leben Du!!!!!
Ich liebe Dich!!!!! !!!!! !!! Gott behüte Dich!
Ich bleibe ewig Dein [Roland]
Viel liebe Grüße den Eltern!