
Sonntag den 20. Oktober 1940.
Mein liebes, teures Herz! Meine liebe, liebe [Hilde], Du! Holde mein!
Ganz häuslich ist Dein Hubo heute. Zu Mittag hat er sich ein Bäuchel angegessen von Schweinebraten, Kartoffeln und Rotkraut. Dann ist er in den Duschraum gesprungen und hat ein Bad genommen. Splitternackt hat er sich unter dem Strahl der Brause getummelt und alle Körperteile mit dem lieben Naß bekannt gemacht, die in der Woche darin zu kurz kommen.
- Pierre Masse, Französischer Senator von Hérault schrieb 18. Oktober 1940 einen Protestbrief an Fr. Staatschef und Marschall Philippe Pétain, ob Masse und seine Familienmitgleider die vielen militärischen Stellen und Ehrenbezeichnungen jetzt abgeben mussten, da Juden von dem französischen Militär ausgetrieben wurden. Er wurde in Auschwitz wohl 10.1942 ermordet.
Dann hat er sich mit einer wohligen Mattigkeit auf sein Bettlein gestreckt — das Stübchen hat er schon vor dem Essen gefeuert — und nun fehlte nur noch eines zu einem erquickenden, süßen Mittagsschläfchen — der Kuß und die Nähe der Liebsten. Und er kam! Du! Welch[’] schöne, liebe Stunde an diesem Sonntag! Dazu ein Päckchen mit Naschwerk von der Kantorei. Wenn ich es über mich bringe, bekommst auch noch was ab davon.
Holde! Geliebte! Sei tausendmal bedankt! Bedankt auch für das erlösende Wort, Du! Es geht mich eigentlich nichts an, Du! Aber ich freue mich ganz sehr mit Dir. Und es geht mich doch etwas an, bin doch Dein Gärtner, Du! Vielleicht hat es gerade an seiner Mühewaltung gefehlt. Weil nur nun alles in Ordnung geht! Bin ich nicht ein guter Rechenmeister? Ach Du! Er hat auch schon weiter gerechnet, und einstweilen will seine Rechnung noch gar nicht aufgehen. Besuchst [Du] mich vor dem 15. Nov., kann ich noch nicht versprechen, ob meine Vorbereitungen alle beendet sind. Besuchst [Du] mich hernach, kommen wir so weit hinein ins Jahr. Ach Liebste! Es wird sich ergeben. Und wir hoffen, daß alles gut wird.

[Johann Sebastian Bach, Choralkantate 140 — Wachet auf, ruft uns die Stimme, BWV 140; MIT Concert Choir, Dirigent: W. Cutter, Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic license, über Wikimedia Commons, 10.2015.]
Und wenn Ihr dann Heimkommt, hast Du die Musik, die ich nun schon schon [sic] so lange entbehre. Verloren und verlassen wie ein Kind, das sich verlaufen hat, dringen ihre Töne zuweilen aus dem Qualm und Bierdunst der Kantine. Ohne zu werten: die Empfänglichkeit für die gute Musik scheidet die Menschen. Und die dafür empfänglich sind, wird man feststellen können, sind empfindsamer, empfindlicher, zarter besaitet. Der Mensch läßt sich wohl für diese Kunst erziehen. Aber ich glaube, die rohen Genüsse des Alkohols zumal machen den Menschen taub für die feineren Regungen im Reiche der Kunst. Dem scheint zu widersprechen, daß Betrunkene gern singen (aber der Gesang ist auch danach). Meist liebt man im Gasthaus eine Musik dicker Gemütlichkeit. Zum andern auch, daß etliche Komponisten handfeste Trinker waren. Also es wird wieder sichtbar: es ist undankbar, nach festen Regeln zu suchen, weil es keine gibt. Wichtiger ist, daß wir beide auch in diesem wichtigen Punkte zusammenpassen. Das wäre überhaupt einmal ein ergiebiges Thema, das ohne einen Schuß Humor und Übermut gar nicht abzuhandeln wäre, und bei dem ich auf Deine Mithilfe nicht verzichten könnte: In welchen Stücken wir zusammen passen, Du! Auf ein furchtbares oder überraschendes Ergebnis brauchen wir uns nicht zu spitzen, denn es ist schon bekannt: Geliebte, Holde! Gut passen wir zusammen. Gut? ist gar kein Wort dafür. Wir beide gehören zusammen, unzertrennlich für alle Zeit! Wir wissen es, wir glauben es, wir fühlen es! Du und ich. Keines mag mehr sein ohne das andere. Inbrünstig streben uns[e]re Wesen zueinander, wollen einander durchdringen und verschmelzen — unser Kindlein, Du! Wer von uns beiden könnte dieses Glück verraten? Undenkbar!
Aber nun in die Einzelheit! In der Länge? Gut passen wir zusammen. Ein bißchen länger bin ich doch! Mußt aufschauen zu mir Herzliebes! Respektvoll? Das mag ich nicht, steht Dir auch nicht. Aber so wie auf Deinem Bilde, Du! mit Deinen großen, lieben tiefen Augen, weißt so verliebt, Du? Dann kann Dein Hubo nicht mehr geradeaus gucken, dann verzichtet er gern auf die 5 cm und läßt sich herab. Du weißt es nur zu gut, Schelm, süßer! Und es tut ihm auch nicht weh, sind ja nur 5 cm. So wie diese Länge im Ganzen uns zupasse kommt, so auch die Länge der einzelnen Teile. Ich denke an die Beine. Kannst Dich nicht herausreden und entschuldigen mit kurzen Beinen, mußt brav Schritt halten. Ich habe mich auch noch nicht beklagen können.
In der Armlänge bist ja reich bedacht worden. Ich fürchte mich nicht davor. Kann mich leichteren Gewissens einmal mit Dir häkeln und balgen, und Du kannst mir nicht vorwerfen, daß ich mit ungleichen Waffen kämpfe. Von der Länge mag ich nun nicht länger reden, es könnte verfänglich werden, meine Sachkenntnis reicht dazu auch nicht aus. Ich dachte eben nur an die Zunge.
In der Breite? Du weißt, woran ich da zuerst denke, an Dein mächtiges Rückenschild, Du Mannweib!, es ist mir ein wenig zu breit, Du, ist auch das Ding, das Dir den Vorsprung im nassen Element sichert, ja, ja! Aber ich habe mich schon damit ausgesöhnt, die Ausnahme, die zur Bestätigung jeder Regel gehört. Und für das Mannweib darfst mir einen anderen Kosenamen an den Kopf werfen.
Und nun zur dritten Dimension. Gut passen wir zusammen, meine ich. Der Vergleich ist nicht so einfach. Die Polster sind hier zu verschieden verteilt. Überhaupt verträgt das Verhältnis in dieser Dimension allerlei Schwankungen, ohne daß die Harmonie sogleich gestört wird. Man spricht auch vom dicken Köpfchen. Du spielst gerade in Deinem letzten Briefe davon darauf an. Ich freue mich auf das dicke Köpfchen, das durch die Wand will. Wenn ich dann bei Dir bin, bin ich die Wand. Liebste! Beiseiteschieben läßt sie sich nicht einfach. Und wenn auch keine Beulen, ein paar dicke Lippen wird sich das Köpfchen wohl holen, wenn es gar so stur vorwärts will! Aber ich will nicht prahlen mit meiner Kraft und will Dir meine Waffen nicht verraten. Du möchtest sie benutzen zur Abwehr meines dicken Köpfchens. Genug für heute mit diesem Thema. Dieser Bote soll Dich in Deiner Heimat erwarten und empfangen. Herzliebes! Daran muß ich denken, wie ich Deiner wartete auf dem Bahnhof in Dresden: voll seliger Freude, verhaltenen Jubel vermischt mit leisem Sorgen und Bangen. Wenn dann der Zug einfuhr — die Menschen sich zur Sperre wälzten, fremde gleichgültige Menschen — und Eine wußte ich darunter, die Vertraute meines Herzens, die Meine — und wenn ich dann Dich erblickte und unbemerkt Dir folgte — wie Dein Auge mich suchte — ein wenig scheu, ein wenig ängstlich, aber wach und gespannt von heißem Sehnen,— wie Du mich suchtest, Geliebte! ich werde es nie vergessen!! — und wenn dann uns[e]re Hände zum Gruße sich umschlungen hielten, Du! Dann ging eine Tür auf, und schloß sich hinter uns: Die Tür zum Glück, zur Seligkeit des Zweiseins und doch Einsseins. So warte ich Deiner wieder, jetzt in Gedanken — will[’]s Gott, recht bald in Wirklichkeit! Alles Gute wünsche ich Dir für Deine Reise, Liebes! Gott sei mit Dir auf allen Wegen! Er schenke Dir ein starkes Herze!

Dein [Roland]! Nur Dein!
Und Du bist mein! Holde! Mein!!