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O., am 3. Advent 1939.
Herzallerliebster, mein lieber, lieber [Roland]!
18. Dezember 1938.
Start: Bahnhof L..
Bei minus 20° in flotter Fahrt durch Feld und Wald, voller Unternehmungslust zum Christmarkt nach H..
Trotz klirrendem Froste überall froher Trubel — und nicht ein einziger dunkler Gedanke an Krieg stahl sich damals unter das lustige Treiben. Behagliche Rast im schönsten Hotel am Platze. Reichliche Triebstoffaufnahme überall, und bedenkenlos wurde die Rückfahrt angetreten. Zum ersten Male im Leben fuhr ich diese Strecke nach Chemnitz — diese verhängnisvolle Strecke! Was war das Endergebnis?:

Ich küßte Dich, Du! Herzallerliebster!
Zum ersten Male — und wenn Du Dich auch sträubtest dagegen — wäre es an einem anderen Ort geschehen, wo wir keine heimlichen Lauscher zu fürchten brauchten, Du! Ich hätte Dich geküßt, daß Dir der Atem vergangen wäre!
Ich hatte Dich an dem Tag so sehr lieb, Du! All das, was heute vor einem Jahre geschah, fiel mir wieder ein, als ich am Nachmittag mit Mutter nach L. ging, einen Christbaum handeln. Es ist so sehr kalt draußen, doch das kümmert die Leute nicht — es wimmelt von Menschen in der Stadt. Die Bäume sind so rar heuer, wir erwischten endlich noch einen Fichtenbaum, der sich einigermaßen unseren Raumverhältnissen anpaßt, nachdem Mutter gestern schon fast 3 Stunden nach einem Ba[um] lief — möchte wissen, ob das überall so ist. Christbäume können sie doch bald nicht hamstern. Zu Hause bei uns duftet es lieblich nach Weihnachtsstollen, heute früh um 6 haben wir gebacken; zum Nachmittagskaffee wurde Kostprobe abgelegt, ob der Kartoffelkuchen auch schmeckt. Wie sollte er wohl nicht — ach, ich dachte dabei an Dich, ob Du wohl immer noch in Deinen Amtsräumen stöberst?
Du! Ich ahne was — ich muß Dir’s sagen, wenn Du mich auch verhaust.

Schlauer Diplomat, der Du bist! Hast Du etwa Bange, daß der gestrenge Herr Schulleiter auf Weihnachtsurlaub kommt und in Deinem schaurig-schönen Laden umher schnüffelt? Ich an Deiner Stelle würde einen dicken Packen unkorrigierte Hefte aufs Pult legen mit einem Zettel dabei: Ich begrüße die neugierigen Heinzelmännchen mit einer Weihnachtsüberraschung! Unsere Arbeit vor dem Feste geht noch nicht ganz zu Ende, doch bis Mittwoch muß Schluß sein für mich — wie für Dich — dann beginnt die schönere Arbeit: das Rüsten für die Reise. Ob ich denn auch Deinen lieben Eltern schon vor dem Heiligabend willkommen wäre? Sie erwarten mich, wie ausgemacht, erst am 1. Feiertag. Würde denn eine Nachricht noch zur Zeit ankommen, oder genügte es, wenn Du nächste Woche mündlich Bericht erstattest? Du! Liebster! So lange mit Dir zusammen, nicht einen Tag wollen wir auslassen? Ach, Du weißt ja, wie glücklich Du mich machst mit Deinem Plan und Wunsch, ohne daß ich viele Worte darüber schreibe! Ich habe ihn den Eltern eröffnet, sie wissen ihn auch selbst von Dir. Ich bettelte nicht, ich bestand nicht einfach darauf, daß sie mich fort lassen. Ich will sie selbst entscheiden lassen. Ich kann es den Eltern, Mutter vor allem, wohl nachfühlen, daß es kein ganz leichter Entschluß wird. Daß es nun in Zukunft immer so sein wird, daß wir immer abwechselnd ein Fest bei unser[e]n beiden Eltern verleben wollen, wenn wir nicht zu Hause bleiben, stellte ich ihnen vor und daß wir zur Jahreswende beide hier seien. Einen Tag überdachten sie meine Rede, Deinen Plan und nun, ihre Äußerungen dazu, Du! Sie haben meine Hoffnung steigen, steigen lassen!

Und nun? Herzallerliebster Du! Gebe Gott, daß wir uns am Sonnabend in K. froh u. gesund wiedersehen. Möge er Dich behüten! Ich habe keinen Wunsch, als den:
Bei Dir sein Du, mein lieber, lieber [Roland]!
Ich sehne mich so sehr nach Dir, Du! Mein ganzes Glück!
Ich liebe Dich! Deine [Hilde].