O., am 6. Dezember 1939.
Herzallerliebster, mein lieber, lieber [Roland]!
Jetzt habe ich mal eine Stunde, wo ich mit all meinen Gedanken bei Dir sein kann — das konnte ich in den vergangenen drei Tagen doch nur abends, wenn ich in meinem Bett lag. Du! Liebster! Vater ist zum Dienst gegangen, Mutter sitzt am Ofen und strickt; draußen tobt sich wieder ein heftiges Schneetreiben aus und ich glaube, heute wird sich niemand auf die Beine machen, um Besuche abzustatten. Unser Geschenktisch hat sich schon wieder um vieles bereichert, und vier Besucher haben sich angemeldet für dieser Tage. Jeden Tag erlebe ich Freude, mir ist richtig schon wie Weihnachten zumute.

Tagsüber, wenn meine Hände geschäftig sich mit der Arbeit zu schaffen machen, dann hängen meine Augen immerzu an dem goldenen Reif. Die Gedanken aber gehen zu Dir; von Deiner Hand ist dies sichtbare Zeichen uns[e]rer Verbundenheit, von Deiner Hand wurde mir diese goldene Fessel angelegt, und wenn ich denke, daß Du, Liebster, die gleiche Fessel von meiner Hand wil[li]g und mit Freuden dulden willst, daß sie uns beide niemals als Last bedrücken wird, sondern immer wieder an Liebe und Treue zueinander gemahnen wird — auch wenn das Schicksal es bestimmt, einmal Ferne und Zeit zwischen uns zu legen — dann Herzallerliebster, wird mir so froh und leicht ums Herz. Wir Menschen sind in Gottes Hand und sein Wille bleibt uns jetzt noch verborgen. Aber eines ist mir so unverhüllt und klar wie das Sonnenlicht: Meine Liebe zu Dir. Sie ist Dein, mag sich zwischen uns drängen, was auch sich will.
Sie gehört allein nur Dir, solange Leben in mir ist.
Du sollst das niemals im Leben vergessen, mein [Roland]!

Ach Liebster! Wenn wieder ein Tag verging, der mich die ganze Wucht uns[e]res Zeitgeschehens einmal so recht deutlich erkennen ließ, dann muß ich mich fast verzweifelnd fragen: Warum läßt das alles unser Herrgott droben zu?
Ist das nicht Knechtschaft, was sie uns aufzwi[ng]en wollen und auf diese Art?
Und wiederum — bin ich vermessen, dünke ich mich mehr oder besser, als eine and[e]re, die auch aus uns[e]rer Mitte kommt — geschieht nicht alles für unser Vaterland?

Ach Du! Ich will ja alles tun, wenn Du mir nur bleibst — ich kann doch nicht sein ohne Dich.
Herzallerliebster! Sei mir nicht böse, wenn ich im Gedenken an unser großes Glück der Liebe mich von einem trüben Tag so beeinflussen lasse. Bitte, sei nicht traurig. Es ist so im Leben: Man kann nicht einen Tag so froh sein wie den anderen. Ich wollte Dir nun heute einen recht lieben Brief schreiben, in dem die Erinnerung an unseren schönen Festtag nachklingen sollte und nun muß ich Dir wieder Sorge machen. Mein lieber [Roland], Du wirst mich recht verstehen — es verlangte mich so, Dir zu schreiben. Ich wollte Dich mit meinen Zeilen so froh machen — so froh wie Du warst bei mir und wie Du von mir gingst, Du!
Mein Brief ist nicht von einem himmelhochjauchzenden Glück durchdrungen. Aber ich wünsche mir so sehr, daß Du fühlen mögest, Liebster, wie so ganz ich mich Dir anvertraue in Liebe, wie so fest mein Herz mit dem Deinen verankert ist, wie ich mich an Dich lehnen möchte in Freud und Leid.
‚Du Ring an meinem Finger‘, so heißt es im Liede, rufst du nicht zu jeder Stunde alles Glück herbei, das eben erst bei mir war und nun bei mir bleiben will? So möchte ich mich fragen. Manchmal kann Leid das Glück überwiegen. Das Gute, Edle bleibt beständig. Hast Du nicht mit eigenen Augen gesehen, hast Du nicht selbst mit erlebt, daß Gottes Güte immer mit uns war, ist das alles unwichtig, gegenüber menschlichen Handelns? Diese Frage drängt sich vor und es ist mir (dabei), als blickten mich dabei Deine lieben Augen ernst und antwortheischend an. Ja, Du, Liebster! Dessen will ich immer eingedenk sein: Zu aller Not nie kleingläubig werden, was kommt, das schickt Gottes Hand und wie bisher, so wollen wir[‘]s auch weiterhin halten: Im Vertrauen auf ihn, wollen wir unseren Weg zuversichtlich fortsetzen.

Weihnacht will nun werden, das Fest der Liebe. Beim Gedenken an dies Fest wird uns allen warm ums Herz, Frieden will einziehen. Weihnacht soll’s werden in aller Welt. Einmal las ich irgendwo, nirgends erlebt man Weihnachten inniger und schöner als in Deutschland. Kennt denn nicht alle Welt die Geschichte vom Heiland, der zu uns kommt in der Weihenacht, daß mit ihm der Frieden einzieht? O könnten doch alle Fremden einmal das große Wunder deutscher Weihenacht erleben, würden dann nicht alle ihre Herzen friedlich gestimmt werden, zum Segen für die ganze Menschheit?
Liebster, Herzallerliebster, Du! Nun behüte Dich Gott! Ich habe Dich unendlich lieb! Du!
Deine [Hilde].