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[OBF-391115-001-01]
Briefkorpus

Schmilka am 15. November 1939.

Herzallerliebste, meine liebe, liebe [Hilde]!

Wie ein Traum, oder wie ein Spuk oder wie sonst irgendeine unwirkliche Geschichte, so kommt mir unser Leben jetzt manchmal vor. Nichts steht fest, alles schwankt; nichts ist von Bestand, alles flüchtig; nichts ist absolut gültig, alles ist fragwürdig; nirgends Geborgenheit, überall Unruhe, Unrast, Unsicherheit, Ungewißheit.

Unsre sonntäglichen Zusammenkünfte in der Familie: sie sind wie ein Traum, so kurz und deshalb so unwirklich, kaum hat man sich gegrüßt, geht es schon wieder ans Abschiednehmen; längst hat man sich noch nicht alles gesagt, da zieht schon ein jeder wieder ab, jeder in eine andre Richtung, ins Dunkle, Ungewisse, man weiß nicht, ob man ihn jemals wiedersieht. Da ist das Radio: dieses Gespenst, dieses Ungeheuer, dieser Zauberkasten, wie aus einer Traumwelt herübergeholt, unheimlich speit er immer andere meist beunruhigende Neuigkeiten, die man dann im oder am Kopfe wie eine böse Beule mit sich herumträgt, und die einen bis in den Schlaf verfolgen. Da ist abends die Dunkelheit. Zu Hause beunruhigt es einen nicht. Aber unterwegs, im Getümmel der Bahnhöfe, wie alle durcheinandersuchen und wühlen und krebsen wie das Getier auf einem Meeresgrund, das ist verwirrend und geisterhaft. Mein Dasein hier in Schmilka selbst: Es ist darin ein unsicherer Faktor: Mein Tageslauf bleibt nur so, solange der Krieg dauert, denn von rechtswegen  muß ich ja pendeln. Und noch traumhafter erscheint mir alles, wenn ich denke, daß ich mitten in dem Hasten und Ängsten dieser Zeit Dich fand, wenn ich an unsre Begegnungen denke, die mancherlei Umstände, an die seligen, süßen Stunden, Du! Wie ein Traum alles. Meine liebe [Hilde]! Es ist eine rauhe, wilde Zeit, die wir jetzt erleben; eine Zeit voll Gefahren, eine Zeit mit mehr schwankenden und flüchtigen Erscheinungen und Gestalten als festen, eine Zeit der Erprobung und Heimsuchung. Und wenn alle Zeiten Sinn und Gestalt von Gott erhalten, dann ist es eine Zeit der Gottesferne — oder der Gottesnähe. Es ist wenig Gottesfurcht unter den Menschen, aber Gott ist hinter den Menschen [unklar] in den mancherlei Ungewittern. Daß ich es sehe und glauben kann, wie dieser tolle Wirbel unsrer Zeit nicht das mutwillige Spiel eines Zufalls oder der Menschheit ist, sondern daß Gott als Oberster seine Hand im Spiele hat, das gibt mir Kraft und Mut zur Hoffnung, das allein kann uns bewahren vor der Verzweiflung. Und mit dieser Hoffnung bauen wir getrost weiter mit mitten, im Sturm der Zeit, baue ich mit Dir, Herzliebes, Du mein Kamerad, mein Lebensgefährte, und bauen wollen wir nicht für die nächste Stunde und den nächsten Tag, bauen wollen wir für ein ganzes Leben im Angesicht Gottes.

Herzallerliebste! Die beiliegende Karte war als ein Gruß an Dich gedacht. Der Maler war erst ganz zuletzt in Stimmung und dann ging alles in Eile. Ich werde Dir selber einige Erläuterungen geben müssen. Wir waren alle beisammen. Ganz überraschend erschien in der schwarzen Panzeruniform Siegfried, auf Sonntagsurlaub aus Erfurt. Daß Du nicht unter uns weiltest, darüber war ich einmal froh — Hellmuth ist zu schlecht ausgestattet, es wäre mir selber peinlich gewesen, am Sonntag ist es mir erst recht aufgefallen, es hat mir den ganzen Tag etwas verleidet — zum andern war es schade: Hellmuth hat von seiner Seereise ein paar recht schöne Bilder heim angebracht, vier davon hat eine Kunsthandlung in Dresden in Kommission genommen. Ich werde Dir von meinen Eindrücken noch erzählen. Du! Seit Sonntagabend liegen im Schatzkästchen zwei runde, gelbe Dinger, Liebste!

Über Deinen Brief habe ich mich recht gefreut. Der 1. Advent ist nun unser Festtag, Herzliebes, daß Du zustimmtest, auch darüber freue ich mich. Vater und Mutter wollen ihn mit uns begehen.

Herzliebes! In freudiger Erwartung sehe ich nach dem Ende dieser Woche. Ich weiß schon nimmer ganz, wie Du aussiehst. Lieb von Dir, daß Du mich in Chemnitz erwarten willst. Wenn er pünktlich ist, 1601 [Uhr] läuft mein Zug ein.

Nun behüt’ Dich Gott.

Bitte grüße Deine lieben Eltern.

Ich will zu Dir, Liebste. Ich sehne mich nach Dir.

Ich will Dich küssen und recht lieb haben,

Du! meine liebe, liebe [Hilde],

Dein [Roland].
 

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In diesem Brief von 1938 wird die politische Spannung des Nationalsozialismus sehr deutlich. Vor allem im ersten Abschnitt wiederholt Roland immer wieder die Ungewissheit der Welt und der Unbeständigkeit des Alltags. Er verwendet dafür einige sprachliche Stilmittel um diese Zeit besonders deutlich zu machen. Die Alliteration "Überall Unruhe, Unrast, Unsicherheit, Ungewissheit" spiegelt das Leben nur zu deutlich wieder. Die Zusammenkünfte mit der Familie erscheinen Roland wie ein Traum, zu kurz, zu unsicher für diese Zeit - als würde er jede Minute mit seiner Familie empfinden, als könne es ebenso die letzte sein. Er spricht auch technische Innovation an - wie das Aufkommen des Radios, das von der Diktatur des Regimes als Propagandamittel genutzt wurde. Im Gegenzug scheint die Liebe zu Hilde wie ein Lichtblick zu sein. Die zweite Hälfte des Briefes beschreibt die schönen, sinnlichen Stunden mit Hilde, während eines Spaziergangs oder dem einfachen romantischen Zusammensein. Der Kontrast zwischen der schrecklichen politischen Zeit und einer so unschuldigen Liebe kann nicht deutlicher beschrieben werden. Immer wieder wird auch Gott angesprochen - Gott, an den kein Mensch mehr denkt, doch der hinter jedem steht, jeden behütet und auf jeden Acht gibt. Und Gott, der Hilde und Roland zusammengeführt hat. Hilde ist für Roland nicht nur die Geliebte, sondern er spricht sie als Lebensgefährtin und Partnerin an. Eine Person, mit der man durch dick und dünn gehen will - ebenso durch schwere Zeiten wie diesen der Trennung und des Krieges. Aus dem Brief geht hervor, dass er ihr ein Portrait (?) mitschickte. Und zwei für mich persönlich neue Figuren treten ins Bild: Siegfried, der in Uniform gekleidet ist und zu Besuch kam und Hellmut, der anscheinend Seefahrer ist und Bilder mitgebracht hat als Geschenke. Kann mir jemand weiterhelfen und erläutern, wer diese beiden Persönlichkeiten sind und in welcher Beziehung sie zu Roland stehen? Ein weitere Hinweis sind die zwei runden, gelben Dinger, die Roland anspricht: dies sollen sicher die Eheringe sein, die bereit liegen für die Hochzeit. Hat er ihr bereits einen Antrag gemacht? Und wenn ja, wann ist die Hochzeit geplant? Denn der Briefkontakt geht schließlich noch mindestens 2 Jahre so weiter... Sie scheinen sich lange nicht gesehen zu haben, denn er postuliert, dass er kaum noch weiß, wie sie aussieht. Seine Schreibweise ist noch sehr bedacht, sehr ausgeschmückt und anschaulich beschreibt er das Alltagsleben und die Nutzung der Stilmittel ist hier besonders hervorzuheben! Metaphern, Alliterationen, Übertreibungen etc. werde fast in jedem Satz gebracht.

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946