
O., am 5. November 1939.
Herzallerliebster, mein lieber, lieber [Roland]!
Wieder geht ein Sonntag seinem Ende zu; er war wie so viele Tage in diesem Monat sind, regnerisch und kalt. Ich bin heute noch nicht einmal bis vor die Tür gekommen, schon wenn ich durch’s Fenster schaue, überkommt mich ein Frösteln und weil mir sowieso nicht ganz gut ist, so habe ich den heutigen Sonntag ausgefüllt so, daß ich mir ein wenig Ruhe gönnen kann, während doch dabei die Stunden nicht nutzlos vergehen. Ja, der Weihnachtsmann pocht auf sein Recht. Du, Liebster! Ich habe heute morgen bis ½ 9 geschlafen — das Klingeln des Postboten weckte mich erst — Du hattest um diese Zeit gewiß schon längst den Morgenkaffee mit Deinen Lieben eingenommen. Über meiner Arbeit konnte ich so viele Stunden mit meinen Gedanken bei Euch sein, die Zeit ist so rasch hingeflogen. Wir haben in uns[e]rer Stube geheizt, ich finde es gemütlicher da wenn wir alle beisammen sind, und die große Lampe macht es heimlicher im Zimmer. Vor acht Tagen erst saßen wir hier im Kreise beieinander, und jetzt um diese Zeit bist Du auch schon wieder geschieden von den Deinen aus K. — vielleicht sitzt Du gar schon in Deinem Stübchen in S.. Ach Du, Liebster! Wenn Dein neues Heim auch nicht äußerlich unser[e]m Glücksmärchenhäuschen gleicht — weil ihm das Altertümliche fehlt, das alles Erleben so märchenhaft, unwirklich scheinen läßt — so ist es mir doch schon nach meinem ersten Besuche als kleines Paradies erschienen.
Wenn man zum ersten Male vor dem Häusel steht, das sich da fast wie schutzsuchend dicht an die hohen Felsen schmiegt, und einem aus seinen hellen, blinkenden Fenstern, wie aus freundlichen Augen anschaut, dann kann man sich schwerlich auf eine Enttäuschung gefaßt machen, die man im Innern erleben könnte. Ich fand alles so nett und sauber, die Küche hatte es mir gleich ein wenig angetan. Die Art der Einrichtung ließ auch erkennen: Dies ist nicht nur das Arbeitsfeld der Hausfrau, hier kann sie sich auch Stunden der Erholung und Entspannung gönnen.
Wenn die Raumverhältnisse gestatten, daß sich eine Kochküche und ein Wohnzimmer einrichten lassen, ist es natürlich nicht nur insofern angenehmer, als man nicht jeden Besuch ins Küchenreich einläßt; auch die Hausfrau selbst kann sagen: So — nach getaner Arbeit in eine and[e]re Umgebung, die wieder anregt zu neuem Schaffen and[e]rer Art. Aber mit ein wenig Geschick und Geschmack kann man auch eine Küche, in der man mit wohnen muß, so einrichten, daß man nicht jederzeit unliebsam oder aufdringlich nur an die Hausfrauenpflichten gemahnt wird.
Und zu Deinen Räumlichkeiten? Mir schien, das Schlafzimmer entbehrt nichts; Dein Arbeitszimmer enthält alle notwendigen Dinge; ein netter Raum mit einem schönen Blick durchs große Fenster nach […]. Freilich könnte es durch ein paar Kleinmöbel noch etwas wohnlicher und gemütlicher wirken, aber ich meine, die Zeit, die Du da zu wohnen gedenkst, hältst Du es auch so aus. Das Zimmer mutet etwas kahl an und wenn ich denke, daß Du Dich nun manche Stunde so allein da befindest — dann tust Du mir leid Liebster. Die Hälfte des Tages bringst Du ja in der Schule zu und die Mahlzeiten entweder außerhalb oder drüben bei Frau S.. Nächstes Jahr um diese Zeit, mein Lieb! Du! Will’s Gott, da wird es anders sein.


Ich weiß, das Leben ist lang, und ich glaube Dir auch, daß in diesem Leben manches in mir noch erwachen wird, was jetzt noch schlummert. Als Leitstern über allem aber wird unsere Liebe stehen! Ersehne ich denn mit meiner Liebe zu Dir nicht auch Deine Welt? Wenn mich das alles, was ich bisher mit Dir erleben durfte leer und schal dünkte, wenn ich Dich nicht verstehen, Dir nicht folgen könnte; ja, hätten wir uns dann so innig zusammenfinden können? Ich habe in der Umgebung, in der ich so lang mich bewege erkennen gelernt, daß dieses Leben zwei Seiten bietet und hätte nicht das Schicksal Dich mir in den Weg geführt, mein Sehnen wäre noch heute unerfüllt geblieben. Aus eigener Kraft hätte ich den Weg, den ich nun mit Dir gehe, nicht finden können.
Meine Wünsche, Liebster! Ein Menschenherz hat oft so törichte Wünsche und wenn der Herrgott alle diese Wünsche erfüllen wollte, so würde der Mensch doch bald der Einfältigkeit seiner Wünsche gewiß werden.
Große, heimliche Wünsche erfüllen ist soviel wie, einander den Himmel auf Erden bereiten, so glaub[e] ich. Es ist auch gut und edel gedacht einander alles zu erfüllen, wenn es nur irgend möglich ist. Doch wenn ich ganz ehrlich zu mir bin und das ist mir schon so ergangen: Wenn ein großer Wunsch endlich erfüllt wird, dann ist die Freude des Besitzens oft garnicht so groß wie das Gefühl des Begehrens vorher. Es gibt auch hier Ausnahmen. Das Beste was wir uns wünschen können vom Herrgott droben sind: Gesundheit, Zufriedenheit und Gottes Segen.
Von diesen Dingen hängt alles and[e]re Glück und alle and[e]re Freude ab. Ach, Liebster! Ich habe so gar keine Bange an Deiner Seite, mag kommen, was auch will.
Ich liebe Dich, so wie Du bist, Du!
Nun will ich mich aber erst einmal bedanken für Deine liebe Überraschung Du! Das hätte ich garnicht erwartet, ich danke Dir recht sehr, Du Lieber! Dein lieber Brief hat mich froh gemacht und mit den Bildern hast Du uns alle erfreut. Sogar um eine ‚5‘ hab[e] ich Dich noch erleichtert, wenn nur Herr P. wüßte, was er alles für mich bringt. So viele Geschäfte hast Du nun täglich; ich freue mich, daß Du mich an allem teilhaben läßt. Schone nur die Hosenböden Du! Es gibt so wenig Stoff! Gestern hab[e] ich mir Kleiderstoff gekauft. Vielleicht bist Du enttäuscht, doch ich verspreche mir nicht wenig davon: schwarz ist’s. Du sprichst so geheimnisvoll von Deinen Geschäften! In diesen Tagen habe ich überlegt, was als Weihnachtsgeschenk anstatt eines Schmuckkästchens für uns beide besser wäre, ich weiß nur nicht, ob’s zu teuer wird! Ich möchte erst nochmal mit Dir sprechen, ehe Du etwa schon zum Weihnachtsmann gehst. Du, mein Lieb! Noch 13 Tage, dann bist Du bei mir. Ich kann meine Freude auf den bevorstehenden Festtag manchmal kaum noch verbergen, wann schreibst Du den Eltern? Hast Du Deinen Eltern davon erzählt? Denke, am 19. findet in uns[e]rer Kirche das Reformationsspiel statt; nachmittags, ich muß mitsingen! Und nun Herzallerliebster? Bist Du wieder ganz gesund? Wie gehts zu Hause? Ich sehne mich nach Dir, Du! Behüt Dich Gott!
Mein lieber, lieber [Roland] Du! Ich küsse Dich! Ich liebe Dich!
Deine [Hilde].