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[OBF-391022-002-01]
Briefkorpus

Oberfrohna, am 22. Oktober 1939.

Herzallerliebster, mein lieber, lieber [Roland]!

Es ist mir in diesen Tagen so deutlich geworden, daß es stark macht, einen Menschen zur Seite zu wissen, dem man ganz zu Eigen ist, bei dem man sich so ganz geborgen weiß. Liebster! Wie könnte es auch anders sein, als daß ich alles in stillem Einvernehmen mit Dir tue? Mir scheint, als fühle ich in Tagen der Sorge mehr denn je, daß wir beide zusammengehören. Und das ist wohl gut so — Sorge und Leid kettet die Menschen fester, inniger aneinander; wir wollen doch nicht nur an Sonnentagen zueinander finden — aber wir wollen so fest einander verbunden sein, daß wir aus eigener Kraft Sorgentage in Sonnentage wandeln.

Ich habe gewußt, mein Liebster, daß Du die rechten Worte finden wirst in meiner Not, und ich danke Dir für Deinen lieben Brief, Du! Wie von einer Ahnung getrieben eilte ich am Freitagmorgen heim — und nicht vergebens!

Wenn ich Deine Zeilen lese, so ist es, als hörte ich Deine liebe Stimme — ich kann mich aufrichten an Deinen Worten und wie von einer unsichtbaren Kraft gestützt, trage ich den Kopf höher und biete allem, was auf mich zukommen will, frei die Stirn.

Welch wunderbares Geheimnis ist doch um die Verbundenheit zweier Seelen, sie können durchs Leben gehen und was sie auch antreffen mögen — sie bleiben unangefochten.

Vielleicht sollst Du recht behalten, wenn Du die Sorge um den Arbeitsdienst als kleine betrachtest. Ich würde mich glücklich schätzen, hätte ich die Sorge schon ganz überwunden. Die guten Vorsätze werden immer wieder ein wenig geschwächt wenn ich sehe, wie eine nach der andern fort muß. Und so ist es auch nicht so leicht, unter dreien, die sich nun mit der unabwendbaren Tatsache abgefunden haben, allein auf einen guten Ausgang der Dinge zu hoffen — an das Glück der Freiheit zu glauben, daß dann allein mir zuteil würde, wenn Du im Ernstfalle zum letzten Mittel grei[fe]n willst: mich zu Dir zu holen.

Bei der Einstellung in den Arbeitsdienst (wo man mich direkt in ein Lager stecken will,) hätte ich in Anbetracht meines Vorhabens, den Einwand einer Verdienstmöglichkeit gebracht. Aber nun, da sie uns in Munitions- und Gasmaskenfabriken stecken, sage ich auf keinen Fall, daß ich noch etwas verdienen muß; dann wäre ich bestimmt eine der ersten von unserm Betrieb, die weg kommt.

Daß Mädels bei dieser Art „Arbeitsdienst“ eine andere Löhnung erhalten, als im Lager, ist meines Erachtens selbstverständlich. Weißt Du um die Arbeit in einer Pulverfabrik? Ich würde sie nicht verrichten, auch nicht für einen Tageslohn von 25 Pfennigen. Wenn's so kommen sollte, dann werde ich kündigen und noch bis zu unsrer festgesetzten Zeit im nächsten Jahr zu Hause bleiben und den Haushalt führen. Mutter könnte somit voll ihrer Beschäftigung nachgehen und ich hätte dann in meiner Freizeit die beste Gelegenheit, meine Wäsche gebrauchsfertig zu machen. So forsch wie Dein Vater denkt, müßten wir dann eben handeln! So schön, wie ich mir das alles in meinen Träumen ausmalte, würde es freilich nicht.

‚Unseren Tag‘ lassen wir uns zunächst von Menschen nicht verschieben! So klar und eindeutig stehen diese Worte vor mir. Liebster, Du! Und ich kann ja nicht anders, ich will's ja nicht anders, als Dir freudig zustimmen! Gebe Gott, daß sich unser größter Wunsch erfüllen möge.

Ich war gestern früh auf der Polizeiwache, man schickte mich ins Rathaus, Zimmer 4. Erst las ich die Anschläge; die waren fast im gleichen Wortlaute gehalten wie die Ausführungen in den Zeitungen. Unter anderem stand da, alle Mädchen, die seit Oktober d. Jhrs. im Besitz eines Arbeitsbuches sind und die im verkürzten Arbeitsverhältnisse stehen, haben sich bis 15. Oktober schriftlich nach Chemnitz ‚Meldestelle des Reichsarbeitsdienstes‘ zu melden. Es standen eigentlich mehrere Bedingungen da, von denen ich ausgenommen wäre. Nähere Einzelheiten könnte ich Dir jetzt garnicht anführen, es steht so viel in dem Kasten, daß ich's mir nicht merken kann. Um mir letzte, volle Gewißheit zu holen, ging ich nach Zimmer 4 und erkundigte mich, wie ich mich zu verhalten hätte. Ich fand vorwiegend älteres, weibliches Personal vor; eine Dame bedeutete mir: ob vollbeschäftigt, ob ich im Dienste der Heereslieferung stünde oder nicht, alle Mädels, die den Jahrgängen 1920/21 angehören, haben sich umgehend in Chemnitz schriftlich zu melden; ob ich nun herangezogen würde, sei noch dahingestellt; weitere Befehle ergingen dann auf amtlichem Wege an mich persönlich. Na, nun weiß ich Bescheid. Drüben im Kasten stehen eine ganze Reihe besondere Anhaltspunkte, die zu beachten sind bei der Meldung, die ich aber nicht alle merken konnte, auch die Anschrift hab ich schon wieder vergessen. So will ich mich morgen mit Zettel und Bleistift bewaffnen um das „Wichtige, Wissenswerte“ aufzuschreiben. Ich bin bloß neugierig, was dann aus mir wird.

Mein lieber, lieber [Roland]! Ich hatte heute nur ganz im Geheimen mit einem Sonntagsgruß gerechnet, um[s]o freudiger eilte ich heute morgen nach dem Klingeln hinunter, Deinen Boten zu empfangen. Ich danke Dir recht sehr, Liebster, Du! Die Uhr zeigt ½ 4, Du wirst schon wieder im Zuge sitzen. Ich wünschte, jetzt in Schmilka zu sein und Dich im warmen, traulichen Zimmer zu empfangen. Wir würden eine gemütliche Kaffeestunde halten; miteinander plaudern; für morgen früh alles bereit legen, damit der Anfang schön klappt und da[nn]?

O Du! Dann würde ich Dich so sehr liebhaben, wie ich nur könnte — weil ich mich nach Dir sehne, Du!

Es ist draußen so trübe und es regnet. Ob denn Frau Sch. weiß, daß Du nachmittags kommst? Hoffentlich hat sie Dir geheizt und Dir alles wohnlich gemacht. Wird sie denn auch ein bissel lieb zu Dir sein, daß Du das Alleinsein nicht so sehr empfindest?

Ach, mein Liebster, Du! Könnte ich doch bei Dir sein! Es ist lieb von Dir, daß Du mir so schön ausführlich schreibst, wie Du Deine Ferien verbracht hast. Von Deiner Mutter erfuhr ich, Du wollest voraussichtlich erst am Mittwoch 18. von Deiner ‚Geschäftsreise‘ wiederkommen; da hab ich Dich nun in Gedanken wo anders gesucht, während Du längst bei Muttern weiltest. Schade ist nur, daß Du Dich in den paar Tagen auch noch mit dem Steueramt abgeben mußtest. Vater Staat müßte ja auch zugrunde gehn, wenn er auch nur einen, der in den Zwangsferien müßig geht, bezahlt! Ich weiß gewiß, Du drückst Dich nicht von einer Arbeit — aber mich hätte es für die Mutter gefreut, weil sie grade so schlecht zu Fuß ist. Fußerkrankungen sind meist langwierig, man muß geduldig sein; hoffentlich hält sie sich, damit es nicht schlimmer wird. Nun hast Du allein nach dem Berg und in den Wald gehen müssen. Wie habe ich gestaunt, daß Du so viel Glück hattest beim Pilzsuchen — ich meinte die Zeit wäre nun vorbei — da wird sich Deine Mutter schön gefreut haben. Du, ich glaube wir beide pfeifen in der Erntezeit mal auf die Lebensmittelkarten — wenn's noch welche gibt — wir nähren uns von Feld und Wald! Ach und wenn ich daran denke, daß wir mal einen Garten haben, wenn wir zusammen sein werden, ist er auch nur klein, so freue ich mich schon jetzt darauf, allerlei nützliche und natürlich auch leckere Sachen mit Dir zu erbauen. Ja, nun bin ich doch schon wieder bei dem Thema ‚wir‘ angekommen; es ist aber auch unerschöpflich. Wenn ich unsrer denke, so ergeht es mir ebenso wie Dir. Alles schaue ich freundlich und hell — ich kann mir auch nicht denken, daß es etwas gibt, was wir nicht in bester Kameradschaft und im guten Verstehen miteinander schaffen. Ich wünsche wie Du, daß sich auch bald dies, wie so viele wiederholen möge: Der Frieden vor einer Woche im Osten.

Die Tage stehen nun schon wieder unter der Vorbereitung der kommenden Freude: Euer lieber Besuch! Vorige Woche habe ich die Doppelfenster abgeseift und geputzt, gestern alle die in der Wohnung sauber gemacht und mit Vater eingehängt. Mutter hatte gestern nochmal Waschfest und überließ mir die Instandsetzung des ‚oberen Reviers[‘] ganz allein. Heute hab ich gekocht und einen Nachmittagskaffeekuchen gebacken, dann will ich noch fleißig sticken, zum Ausgehen ist uns das Wetter zu schlecht. Ich muß jeden Tag mindestens 2 Stunden hinter meiner Arbeit sitzen, sonst werde ich bis Weihnachten nicht fertig. Nun zu Eurem Besuch: Sollte Siegfried kommen, müssen Deine Eltern natürlich daheim sein, dann wird eben die Reise verschoben. Bis Mittwoch wissen wir ja Bescheid. Wenn Ihr 1601 [Uhr] in Chemnitz ankommt, dann muß ich Dir schon die Zeit vertreiben 1 Stunde lang — womöglich gehst Du sonst nochmal zum Hutkauf! Also: wenn Ihr kommt, so komme ich auch, Du! Weißt Du, woran ich dachte?

Wenn Du Sonntag gegen abend wieder nach Schmilka fahren mußt, weil Montag Dich ja niemand vertreten kann, so fahre ich mit Dir. Bei uns ist die Arbeit sowieso nicht so eilig und es gibt doch Sonntagskarten bis Mittwoch den 1. November. Ich könnte während Du Schule hältst tüchtig sticken, na und dann wäre es eben genau so, als ob Du bei mir wärst, nur umgekehrt. Dienstag abend fahre ich dann wieder heim.

Ob da aber Deine Eltern böse werden, wenn wir beide zusammen abfahren und wir lassen sie allein zurück? Du! Liebster! Denk Dir nur einmal aus, wie schön das wäre! Was würde uns dann noch die elterliche Bewachung ausmachen? Nicht aber darum allein, sieh, wir könnten 4 Tage beisammen sein!

Und wenn Deine lieben Eltern nicht kommen, dann fahre ich am Sonnabend früh zu Dir. Dann mußt Du mir aber bitte nochmal schreiben, wann ich hier abfahre, damit ich auch in Dresden noch genügend Zeit habe nachzulösen — ich bekomme von hier aus keine Sonntagskarte bis Schmilka. Und in Schmilka angekommen, wie müßte ich dann gehen, um in Deine Behausung zu gelangen? Ich bin ziemlich fest davon überzeugt, daß ich Montag frei bekomme. Nun will ich abwarten, wie die Nachricht Deiner lieben Eltern am Mittwoch ausfällt. Ich gebe Dir dann sofort Bescheid. Wie sie nun auch ausfallen mag, wenn ich nur Dich an meiner Seite weiß, Herzallerliebster, das ist mir doch die allergrößte Hauptsache!

Nun, mein Liebster! Schluß für heute. Ich würde mich freuen, wenn meine Grüße Dich morgen schon erreichten. So Gott will, in 8 Tagen auf frohes Wiedersehen!

Ich wünsche Dir einen gesegneten Anfang, Du!

Bald wird wieder alles Schöne, Süße und Geheimnisvolle vor uns stehen! Herzallerliebster! Mein lieber, lieber Roland! Ich sehne mich nach Dir! Ich küsse Dich!

Ich liebe Dich!

Deine [Hilde].

Die Eltern lassen Dich aufs herzlichste grüßen!

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Autor Hilde Nordhoff
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Über den Autor

Hilde Nordhoff

Foto von Hilde Nordhoff. Nahaufnahme, Person im Sommerkleid, im Hintergrund Bäume.
Ba-OBF K01.Ff2_.A12. Hilde Nordhoff, 1940, Oberfrohna, Fotograf unbekannt, Ausschnitt aus Fotoalbum.

Hilde Nordhoff wurde 1920 als Hilde Laube in eine Arbeiterfamilie in Oberfrohna, eine Kleinstadt in Sachsen, hineingeboren. Sie arbeitete ein Jahr lang als Hausangestellte, dann in einem Trikotagenwerk.

Sie kannte Roland Nordhoff aus der Kantorei in Oberfrohna und trat sogar der evangelischen

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946