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[OBF-391015-002-01]
Briefkorpus

Oberfrohna, am 15. Oktober 1939.

Herzallerliebster, mein lieber, lieber [Roland]!

Abend ist es, da ich hier sitze und schreibe. Warm ist es im Zimmer und die Lampe spendet ihr mildes, tröstliches Licht. Es ist gut und schön — und ich empfinde dankbar, daß ich jetzt geborgen im Elternhause sein kann, während draußen Sturm und Regen der Natur die letzte Schönheit vollends rauben. Heute Vormittag bin ich ein Stück gegangen und ich sah, wie draußen das Sterben mit Riesenschritten vorangeht. Ich habe den Herbst gern, er ist eine ernste Jahreszeit — in meinen Gedanken sehe ich den Herbst oft als ein Gleichnis für die Menschen.

Alles, was draußen in der Natur steht und blüht, woran sich unser Auge erfreut und das unser Herz froh macht, das muß doch einer guten Saat, einem guten Kern entsprossen sein, sonst hätte es sich ja nicht bis in die höchste Jahreszeit hinein erhalten und zu seiner vollsten Pracht und Schönheit entfalten. Sieh, an dieser ganzen Herrlichkeit die sich uns jetzt noch einmal offenbart, dürfen sich nun alle Menschen erfreuen, deren Herz und Sinn der Natur erschlossen sind.

Und seltsam, wenn sich nun diese letzte Pracht beugen muß vor dem ewigen Gesetz des Vergehens, so sind wir nicht todtraurig darüber, nein — ein tiefernstes Gefühl bemächtigt sich unser, daß uns zu innerer Einkehr, zum Nachdenken anhält und am Ende steht die deutliche Erkenntnis: Alles, was auf uns[e]rer Erde lebt, wächst und gedeiht, hat Kraft und Bestand in seinem Urwesen von unser[e]m Herrgott geschenkt bekommen und nun kommt es auf jedes selbst an, wie es sich bewährt, in seiner, ihm bemessenen Zeit.

Und so wie ein Baum, oder ein Strauch sich allezeit mühten nur immer das Beste zu geben und uns zu erfreuen bis zuletzt, so sollen es auch wir Menschen halten: das was der Herrgott Gutes in unser Herz legte, zur vollsten Entfaltung zu bringen mühen — und uns Menschen hat er es noch erleichtert dadurch, daß wir uns mit der Seele verbinden, deren Herzschlag im Gleichklang mit den anderen steht, daß beide so aneinanderwachsen und zuletzt eins sind.

Wenn solche Menschen dann ihr Leben erfüllt haben, im wahrsten Sinne erfüllt haben, dann ergeht es uns in unserm Empfinden ähnlich wie in der Natur draußen, in uns ist keine trostlose Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, sondern in uns wird eine ergebene, demütige Zufriedenheit sein, mit der wir dankbar auf Geleistetes zurückblicken — und der Glaube, daß sich alles Edle und Gute fortpflanzen wird in unser[e]n Kindern dereinst. Sieh, wenn wir's so halten, dann werden wir einmal ebenso froh und tiefbewegt Hand in Hand vor der Ewigkeit stehen und können sagen: Wir haben und gemüht nur um das Beste, um unsern Mitmenschen Freude zu bereiten, Gott zur Ehre und zum Preis.

Und im festen Glauben an ihn und seine Güte und Kraft wollen wir uns mühen ein Leben zu führen, das uns am Ende nicht leer und wertlos dünkt; sondern ein Leben auf das wir froh und dankbar zurückblicken können, auf das wir stolz sein dürfen und von dem wir überzeugt sein können, daß es zu Gottes Wohlgefallen geschah.

So nachdenklich stimmt mich der Tag heute. Was gäbe ich darum, könnte ich jetzt Deine liebe Hand in der meinen spüren, könnte ich mit Dir durch den Sturm gehen — oder im traulichen Zimmer sitzen, meinen Kopf an Deine Schulter gelehnt, lauschen ohne Ende, was Du mir zu erzählen weißt. Es kann nicht sein.

Und wenn mich auch Wehmut übermannen will, weil Du mir so fern bist, Liebster und mir alle Stunden leer scheinen ohne Dich, so habe ich doch erkannt, nun da der Tag zu Ende geht, daß er selten, ja reich war für mich.

Ich war gestern, am Sonntag zum Kaffee eingeladen bei meiner Freundin Luise. Wir beschäftigten uns mit Handarbeiten für das Weihnachtsfest und es gab sich, daß wir um die Dämmerstunde allein miteinander waren. Aus der Küche herüber klangen die Melodien des Wunschkonzertes, wir saßen uns gegenüber in Luises Stübchen — schweigsamer als sonst. Die Rede kam auf Dich, meine Worte fielen spärlich, vielleicht war ich übertrieben verschlossen.

Sie nahm plötzlich meine Hand und bat mich, sie anzuhören. Ich war seltsam berührt von dieser Art, die ich an ihr noch nicht kennenlernte, ich konnte aber auch keinen Einwand bringen — ich mußte still sein.

Was ich nun hörte, mein lieber [Roland], das ließ mich nicht unberührt, ich habe erkannt, daß ich oft hart urteilte über sie, ich muß ihr manches abbitten.

Es war die Geschichte eines jungen Menschenkindes, das im Überschwang seiner Gefühle — der Folgen nicht achtend — in die Irre ging, sich verstrickte und an Personen geriet, die ihm zum Verhängnis werden konnten.

Daß sie sich mir nie offen anvertraut hat, begründet sie indem sie sich vor mir geschämt hätte. Später hat sie sich nicht getraut mein Vertrauen zu suchen, weil sie mir so oft in ihrem Unverstand mit Worten sehr weh getan hat, ob meiner Liebe zu Dir. — Sie wußte ja nicht darum, sonst würde sie sich bezähmt haben. — Ich sagte ihr, daß ich einem ehrlich bereuenden Menschen verzeihe, daß er mir lieber ist, als ein Heuchler. Sie bekannte, daß es nur durch ihre Launenhaftigkeit zu einem Bruch ihres Verhältnisses kam und daß er, großmütig darüber hinwegsehend immer wieder versucht hat, alles ins alte Geleise zu bringen. Es reut sie ihr Benehmen. Was sie so wandelte? Es ist zweifellos der Krieg, die ernste Zeit, die über uns hereinbrach. Ihr Freund scheint ein sehr vernünftiger Mensch zu sein, der mit großer Geduld die kritische Zeit ertrug, die Luise mit ihrem jungen Leichtsinn heraufbeschwor. Er wird ihr im letzten Briefe recht deutlich in's Gewissen geredet haben. Soweit ich überblicken kann, wird seine Geduld nun Frucht bringen. Luise bat mich gestern unter Tränen, ihr alles was sie mir angetan zu verzeihen, ihr wieder Vertrauen zu schenken so wie es ganz früher war, ihr meine Freundschaft neu zu schenken. Wenn sie ein guter Mensch bleiben wolle, dann könne sie es nur mit meiner Freundschaft.

Sie setzt sich mich zum Vorbild. Das war beschämend für mich, ich bin doch selbst noch so unfertig — und ich mußte an unser Gespräch denken, als Du am letzten Tage vor Deiner Abreise mit mir in den Abend gingst. Daß sie zu mir aufblickt, daß wird kein Freibrief für mich sein, um sie zu bevormunden, um mich über sie zu heben. Nein — es macht mich aber glücklich, daß ich mit meiner schwachen Kraft einem Menschen etwas sein kann, daß mein Wesen ihm Hilfe sein kann auf dem Wege zu einem guten, brauchbaren Menschenkinde. Es ist auch für mich selbst ein neuer Ansporn, immer mehr darauf zu achten, daß nichts Böses und Schlimmes in mir aufkeimt. Ich reichte ihr gerne und ohne Zögern die Hand, ich hätte in dieser Stunde nie vermocht kleinlich zu handeln und mich ihr zu versagen.

Freilich werde ich in allen Dingen, die an mich herantreten (werden) große Vorsicht üben. Der Grund zu einer neuen, guten Freundschaft ist gelegt mit den besten Vorsätzen, aber wahres Vertrauen kann ich erst mit der Zeit erwerben. Mein lieber, lieber [Roland]! Welch herrliches, köstliches Gut das Vertrauen ist, wissen wir beide das nicht am allerbesten? Eine Liebe ohne Vertrauen kann nicht bestehen. Und ich kann mir für Luise nichts Besseres wünschen, daß sie zu ihrem Freunde in Liebe sich so wiederfindet, wie wir uns fanden: In grenzenlosem Vertrauen.

Freust Du Dich mit mir, daß sich Luise wiedergefunden hat?

Herzallerliebster, Du! Die größte, tiefste Freude aber hast Du mir bereitet mit Deinem lieben Briefe.

Wie reich und glücklich sind wir in unsrer Liebe, Du! O Du! Wir wollen nicht vergessen, uns Gottes Güte immer dankbar zu erweisen. Ich kann mir garnicht denken einen Bund zu schließen ohne seinen Segen und ohne seine Hilfe — müßte man sich da nicht fürchten vor dem Leben, hätte man so nicht auf Sand gebaut? Du hast recht, wie auf einer Insel waren wir mit unser[e]m Glück. Mir ist so seltsam zu Mute seit Du fort gingst, wie ein Hoffen und Warten ist's in mir, daß Du wiede[r]kommen müßtest und das wird von Tag zu Tag größer und mächtiger — Du, ich kann nicht mehr sein ohne Dich!

Ich brauche weiter nichts als dies: Ein Glück,
Das ich mir selbst gezimmert Stück um Stück,
Das ich mir selbst errungen, selbst erstritt,
Um das ich kämpfte und um das ich litt.
Ich brauche nichts als dies: Viel Sonnenschein,
Ein stilles Leben voll von Glücklichsein,
Nur einen Menschen, der in Treu nicht wankt,
Der um mein Haupt viel rote Rosen rankt.
Der meine Hände zärtlich nimmt und spricht:
Ich fasse unsrer Liebe Wunder nicht,
Wie ist's um unsre Herzen wohlbestellt,
Jetzt sind nur du und ich noch auf der Welt!

Das waren die Worte, die am Freitag dem 13. auf meinem Kalender standen. Du sagtest mir, daß Du am 13. an mich schreiben wirst. Meine Sehnsucht nach Dir und nach einem lieben Wort aus Deinem Munde waren so groß, und diese Zeilen erschienen mir wie ein Trost.

Mein lieber, lieber [Roland]! Wäre doch die Verordnung der verlängerten Ferien einen Tag eher an die Öffentlichkeit gekommen, Du würdest jetzt noch bei mir sein in den Tagen der Sorge um uns[e]re Zukunft.

Du wirst die Neuregelung des Gesetzes für den weiblichen Arbeitsdienst sicher auch gelesen oder durch den Rundfunk erfahren haben. Jahrgänge 1920/21 müssen sich an der zuständigen Behörde melden und bekommen dann Aufforderung zur Musterung. Ein volles Jahr Dienstpflicht muß abgeleistet werden, das ist Gesetz und schließt keine aus. Wir müssen uns melden, bekommen also keine Extraeinladung. Du mußt mir helfen Liebster, ich brauche Deinen Rat. Soll ich jetzt schon meinen Einwand bringen, wenn ich mich zur Stammrolle melde — oder soll ich damit warten bis zur Musterung? Ist es ratsam, wenn ich mich einmal in dieser Angelegenheit beim Ortsgruppenleiter befrage oder beim Bürgermeister?

Ich werde selbstverständlich nicht bei den Ersten sein, die sich melden, ich werde mich sehr zurückhalten.

Ich habe gehört, bevorstehende Heirat sei nicht ausschlaggebend, nur Kinder seien ein Grund der Befreiung. Ich will aber trotzdem tun, wie Du mir schon geheißen hast.

Sollte mich aber nun nur eine unmittelbare Heirat vor diesem Gesetz bewahren, was dann? Wenn wir noch 1000 RM hätten, wäre uns geholfen. Bei Verwandten diese Summe leihen, behagt mir nicht recht. Es bliebe dann als Letztes nur noch das Ehestandsdarlehen, darüber habe ich auch schon mit den Eltern gesprochen und sie würden sich dazu bereit erklären, diese Summe für uns zurückzuzahlen. Es ist recht ärgerlich, daß diese Geschichte unsre Pläne kreuzen muß, bis nächstes Jahr hätte ich bei guter Arbeit mit Mutters Beistand die Summe zusammengespart.

Nun so, Liebster! Ich leiste mein Jahr ab, in dieser Zeit schaffen die Eltern für mich und dann wären wir vielleicht am Ziel.

Wäre das gut und denkbar, ein Jahr lang fort von Dir, ohne Hoffnung Dich zu besuchen?, — denn das ist unmöglich bei einem Tagesverdienst von 20 Pfennigen und den Eltern wollte ich auf keinen Fall auch das noch überlassen — ich weiß nicht, wie ich das ertragen soll, Du! Ach ja, das sind Sorgen und ich bin recht froh zusammen mit den Eltern, daß Deine lieben Eltern und bald besuchen wollen mit Dir, dann müssen wir einmal gemeinsam beraten, was nun werden soll aus mir. Hoffentlich fällt unterdessen keine wichtige Entscheidung und bitte mein lieber [Roland], schreibe mir bald wie Du über meine Angaben denkst, damit ich auch in Deinem Sinne handle. Eine lange Trennung, Du! Liebster! Das ist die größte Sorge um unser Glück!

Unser Lebenspfad war schon oft schmal und unübersichtlich, aber der Herrgott hat uns immer recht weitergeleitet, wir wollen auch hier fest ihm vertrauen, er wird uns das Rechte zu tun weisen. Wenn dieser Brief Dich erreicht, bist Du gerade eine Woche fort von mir. Du! Ich sehne mich nach Dir, Geliebter! Behüt Dich Gott! Ich küsse Dich mein lieber, lieber [Roland] Du! Ich liebe Dich!

Deine [Hilde].

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Ausschnitt aus dem Brief.

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Autor Hilde Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Hilde Nordhoff

Foto von Hilde Nordhoff. Nahaufnahme, Person im Sommerkleid, im Hintergrund Bäume.
Ba-OBF K01.Ff2_.A12. Hilde Nordhoff, 1940, Oberfrohna, Fotograf unbekannt, Ausschnitt aus Fotoalbum.

Hilde Nordhoff wurde 1920 als Hilde Laube in eine Arbeiterfamilie in Oberfrohna, eine Kleinstadt in Sachsen, hineingeboren. Sie arbeitete ein Jahr lang als Hausangestellte, dann in einem Trikotagenwerk.

Sie kannte Roland Nordhoff aus der Kantorei in Oberfrohna und trat sogar der evangelischen

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946