390902–1‑1
S. am 2. September 1939.
Herzliebes!
Einen Sonntagsgruß will ich Dir noch schreiben.

Wo sind uns[e]re Ferientage geblieben, die sorglosen, glückbesonnten Tage? Hart und jäh wurden sie abgebrochen von den wildbewegten Tagen dieser Woche, und es gibt kein Ausschwingen und Nachkosten. Der dunkelste Gedanke aber, kaum faßbar: Während ich am Fenster sitze, umgeben von dieser so reich ausgestatteten, friedlichen Landschaft, da steht die Welt in Brand, nicht an irgendeinem Ende, sondern an einem Ende, das uns gehört und berührt.

Seit Freitag hat der Unterricht wieder aufgehört, und ich sitze hier zunächst ohne jede Arbeit, untätig, und komme mir dabei so unnütz vor. Ich habe dem Bürgermeister meine Hilfe angeboten, er braucht mich nicht. Wenn der Schulbetrieb weiterhin stilliegt, will ich mich freiwillig zu dem Wachkommando auf dem W. melden. Es ist da weiter nichts zu tun, als nach Flugzeugen Ausschau zu halten. Dann mache ich mich doch wenigstens ein wenig nützlich, so untätig halte ich es nicht länger aus. S. ist eine bekannte, vielbesuchte Sommerfrische. Etliche Sommerfrischler sind noch da, auch eine Berliner Dame in meinem Hause. Sie sind mir zusammen mit meiner Wirtin zu lustig. Ich mag jetzt gar nicht lustig sein und könnte mich jetzt auch frohen Herzens nicht vergnügen.
Ich denke, daß das Leben bei Euch, von allen Kleinigkeiten abgesehen, seinen gewohnten Gang nimmt, daß Ihr gesund und wohlauf seid. Ich schlage vor, daß wir uns jetzt statt des einen langen Briefes zwei kurze Briefe in der Woche schreiben, damit wir des öfteren Gewißheit voneinander haben.
Verzagen gilt nicht trotz allem!

Ich denke immer an Dich, Liebste. Nachher will ich noch einen Stoß Hefte, Aufsätze, korrigieren. Sie sind von vor den Ferien liegen geblieben. Morgen gedenke ich sie nach L. zu tragen. Vor vierzehn Tagen empfingen wir Deine Eltern in K., es ist schon so lange her! Bitte grüße Sie [sic] recht herzlich von mir. Von Hause habe ich noch keine Nachricht. Ich erwarte sie für morgen.
Uns[e]re süßesten Stunden, Liebste —, ich wage kaum daran zu denken. Aber die Gewißheit, daß Du mein bist, gibt mir Mut und Halt.
Behüte Dich Gott!
Ich küsse Dich! Ich liebe Dich! Du, meine liebe [Hilde].
Dein [Roland].