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[OBF-390713-002-01]
Briefkorpus

Oberfrohna, am 13. Juli 1939.
!!
[Siehe Ausschnitt aus dem Brief.]


Mein lieber, lieber [Roland]!

Nach zwei glücklichen Tagen lag am Sonntagabend vor unseren Blicken wieder unser Abschiedsort, die große Dresdner Bahnhofshalle mit ihrem bunten Hasten und Treiben. Wenn wir dann durch den drängenden Strom der Reisenden glücklich durch die Sperre hinaus nach den Bahnsteigen gelangen, wartend beieinander stehen bis das Signal zum Einsteigen ertönt, dann drängt sich alles Empfinden, alles was so wichtig scheint und noch gesagt sein muß, auf die Lippen — und was ist es am Ende, was wir uns noch sagen?

Ein paar belanglose Worte, die uns gegenseitig leichter über den Abschied hinwegtäuschen sollen.

Wir stehen unter Vielen, ungekannt — unbeteiligt, könnten uns zu zweien allein wähnen — und doch lenkt das Treiben um uns herum ab.

Suchen wir diese Ablenkung, um den Schmerz der Trennung zu erleichtern? So ist es. Ich kann nach außen hin hart bleiben, kann die Tränen zurückdämmen; doch innen schmerzt es, als wäre die Brust zugeschnürt. Wird man das Abschiednehmen nicht gewöhnt?

Diese Frage stellte ich mir schon oft, ich muß sie immer wieder verneinen. Der Abschied wird mit jedem Male schwerer, Du! Als Du mir noch einmal mit lieber Hand über die Wangen strichst, war ich nahe daran, Dich ganz fest zu halten — wir waren nicht allein Liebster! Mir schlägt das Herz so schnell, wenn ich zurückdenke. Selten war ich innerlich so voller Unruhe auf der Heimfahrt, wie am Sonntag.

Ich hatte ein unbestimmtes Gefühl der Sorge um Dich. Du! Daß ich Dich allein lassen mußte!

Du warst so unruhig die ganze Zeit.

Ich sah Dich wild, hungrig, Du!

Liebster! War es nicht an mir, unsere Gefühle zu dämp[fen]? ich kann es nicht wenden — wenn ich Deine Nähe spüre, dann kommt es über mich wie ein Feuer, das mich ganz verzehren will.

Ich habe schon seit längerer Zeit beobachtet, daß mich irgend etwas ganz beherrscht. Es ist wie ein Atmen, wie ein Sehnen nach etwas unwirklich schönem — ein seltsames Gefühl der Unrast und Unruhe, es verfolgt mich oft bis in den Schlaf. In jedem meiner Träume nimmt dieses Gefühl Gestalt an, immer auf eine andere Art.

Seit unserer Reise bin ich mir dessen erst recht bewußt geworden. Ich habe meinen tiefen, unbeschwerten Schlaf verloren. Ich klage nicht darum.

Es ist ganz eigenartig zu spüren, wie mich dieses schmerzlich süße Gefühl beherrscht.

Liebster, Du! Was soll nur aus uns werden?

Wir müssen stark bleiben. Und doch wird die Sehnsucht immer mächtiger in uns wach.
Ach, ich glaube, daß Du mehr leiden mußt, als ich.
Am Sonntag war der 9. Juli, auf dem Kalender standen diese Zeilen:

 

Brich die Rosen, wann sie blüh’n. [Rosen pflücke, Rosen blühn,]

 

Morgen ist nicht heut’!

 

Keine Stunde laß entflieh’n;

 

Flüchtig ist die Zeit!

 

Zu Genuß und Arbeit ist

 

Heut Gelegenheit.

 

Weißt Du, wo Du morgen bist?

 

Flüchtig ist die Zeit.

 

Aufschub einer großen Tat

 

Hat schon oft gereut.

 

Tätig leben ist mein Rat,

 

Flüchtig ist die Zeit.

 

 

Gleim.


Die Sprüche auf dem Kalenderblättchen kann man öfter als seinen täglichen Leitspruch betrachten.

War unser Zusammentreffen nicht auch ein Teil im Sinne dieser Zeilen?

Keine Stunde laß entflieh'n, flüchtig ist die Zeit!

Du! Auch wir beide sind von diesem Gedanken beseelt. Eine Freude, unverhofft bereitet — ist doch wie immer — am allergrößten. Und gerade jetzt ist doch für uns die Zeit am schönsten — unsere Liebe erblüht wie die herrlichste Blüte — und jede Stunde, die wir aus dem Alltag, aus dem Pflichtenkreis entfliehen, um einander nahe und glücklich zu sein, dünkt uns wie ein köstliches Geschenk. Ich bin Dir ja so dankbar, daß Du mich riefst, Du hast mich so erfreut mit Deiner überraschenden Einladung, und Du standest mit einer Selbstverständlichkeit, die Fahrkarten schon in der Hand, auf dem Bahnhof, mich zu empfangen. Ich bin glücklich darüber, daß Du mir so vertraust; Du weißt wenn Du mich rufst — ich mache Unmögliches möglich.

Deine Eltern nahmen mich wieder so lieb auf und mir hat es wieder so gut gefallen in Eurer Mitte. Ich denke sehr gerne an Dein Zuhause. Trotzdem wir nun wieder alle beisammen waren, fand sich doch auch Zeit, d[ie] nur uns beiden gehört, Du! Ob sich wohl Dein Bruder und Elfriede auch so liebhaben?

Unser Denken und Fühlen, es läßt sich manchmal so schwer in Worte kleiden — und wie wunderbar, durch die Musik wird uns so vieles offenbar. Oft ist es ein kleines Liedchen nur und es birgt doch all unser Empfinden. Musik ist die Sprache der Herzen.

Wenn Du spielst und singst, dann ist das für mich wie ein kleines Fest — unermüdlich kann ich zuhören. Ich bin so dankbar für den Sonntag, Du!

Manches läßt sich besser sagen, andres wieder kann man nur schreiben. Manches ist schon gesagt — vieles noch unausgesprochen.

Wir hatten am Sonntag kurz vor dem Abschied ein Thema angeschnitte, was wohl bei zwei Menschen, so wie wir es sind, das wichtigste ist.

Eigentlich ist ja alles ganz klar: Wir beide lieben uns, und wir sehnen uns, eins zu werden, wir stehen aber jetzt noch in der Prüfungszeit, ich weiß nicht, wann sie zu Ende sein wird. Und was ich jetzt niederschreibe, das ist die nackte Wirklichkeit und das tue ich, damit wir uns daran gewöhnen und hinterdrein nicht erschrecken, Du! Wir sind beide arm. Dafür können wir nichts, das bringen die Umstände mit sich. Das Leben des Mannes ist grundsätzlich anders eingerichtet als das des Weibes. Wer einen Beruf wie Du erwählte, benötigt Mittel dazu. Du bist begabt für Musik, und sag doch selbst, es wäre Sünde gewesen, hättest Du Dir das Musikstudium versagt. Es kostete Dich zwar ein kleines Vermögen, doch bereuen könnte ich das nicht. Denke einmal zurück, was Du Deiner Musik danken mußt! Wer kann es wissen? Vielleicht spielt die Musik in Deinem Leben gar noch eine größere Rolle? [Siehe Ausschnitt aus dem Brief.]



Angelegenheit des Mädchens ist es, für die Ausstattung Sorge zu tragen und das wäre auch bei meinen Verhältnissen ohne Einschränkungen möglich, wenn mir genug Zeit dazu bliebe. Sieh, ich war nun 19 Jahre alt und ich bin stolz auf das, was ich mir bis jetzt geschafft habe. Ich will mich nicht aufspielen damit. Ich habe meine Freude darüber — und die Freude ist umso größer, wenn ich vergleiche, wie andre Mädels meines Alters ihr Geld anlegten. Ich bin eben noch ein bissel sehr jung — und die Eltern müßten materiell besser dastehen. Ja, mein lieber [Roland], das sind nun Tatsachen, wir können sie nicht zum Vorwurf machen. Liebster, ich hab trotzdem Mut, das alles hindert unsere Liebe nicht. Die Liebe findet Rat und Mittel und Wege. Die Eltern sprachen schon einmal davon, wenn ich mal recht rasch heiraten will, müßten sie sich bei den Verwandten Geld leihen. Sie sagen, wenn sie beide arbeiten, ist das schnell wieder zusammengespart. Bei ihrer Einzigen tun sie ja sowieso ihr Möglichstes und wir dürfen das dankbar annehmen, brauchen uns nicht gedemütigt zu fühlen. Es ist ja kein andrer Weg möglich, wenn es so rasch geht — es kann ja keiner vorauswissen, wie es im Leben zu geht. Und nun komme ich nochmal zurück auf das, was mir schon paarmal Kopfzerbrechen bereitete: Bist Du ganz sicher, daß ich Dir von dieser Summe sprach? Ich kann mich beim besten Willen nicht entsinnen. Glaubst Du denn, daß ich Dich anlüge? Du!

Ich kann mir nicht anders erklären, als daß es ein Mißverständnis war.

Nach jeder Begegnung haben wir einen besonderen Eindruck. Ich weiß nicht, mir ist, als stünden wir bald wieder vor einer Entscheidung. Wenn Du uns besuchen kommst, wirst Du mit den Eltern über das Thema sprechen?

Ich bin Dir noch eine Antwort schuldig, Du!

Nicht, daß ich nur in der Gegenwart lebe, ich denke sogar sehr viel an die Zukunft; doch Deine Frage am Sonntag kam so unvermutet, daß ich verwirrt war. Die ganzen Tage daher beschäftigte mich Deine Frage, ich ließ mir alles so durch den Kopf gehen und ich bin zu einem Entschluß gekommen. Ich will Dir nun antworten: So Gott will, Liebster! Nächstes Jahr zu Pfingsten ist das Jahr zu Ende. [Siehe Ausschnitt aus dem Brief.]



Vielleicht nimmt es Dich wunder, daß ich heute, am Donnerstag schreibe und nicht in der Singstunde bin. Übrigens singen sie heute das letzte Mal vor den Ferien. Ich muß beichten. Bitte, kein böses Gesicht, soll nicht wieder vorkommen! Ich bin auf der Bahn in den Zug gekommen. [Siehe Ausschnitt aus dem Brief.]

Das kann aber nur zwischen Chemnitz und Dresden geschehen sein, bei Dir war ich doch folgsam. Ich konnte am Montag wieder nicht reden, genau wie zu Weihnachten. Dienstag bin ich zum Arzt gegangen: Kehlkopfkatarrh, leichte Entzündung im Halse. Er hat mir ‚Emser Salz’ verschrieben, zum Trinken und Gurgeln. Es geht schon etwas besser, bitte mein lieber [Roland], mach Dir keine Sorgen, wenn Du kommst bin ich bestimmt gesund. Ich bin sonst nicht so empfindlich, doch Gegenzug ist eben gefährlich.

Heute abend kamen Onkel und Tante aus Glauchau, um uns für Sonntag zur Geburtstagsfeier ihres 3 jährigen Töchterchens einzuladen. Wir werden am Sonntag früh 10 Uhr abgeholt. Bei der Suppe will ich ganz fest an Dich denken, Du .......! Von meinen Eltern soll ich Dich bestens grüßen! Du sollst mir noch Elfriedes Anschrift sagen, ich habe ihr Geburtstagswünsche gesandt: Bischofswerda, Straße der S.A, richtig? Nun will ich Schluß machen heute, es geht schon auf ¾ 12 und um 5 jagen mich die erbarmungslosen Menschen schon wieder aus den Federn. Meinen Urlaub konnte ich noch nicht einholen, der ‚Gnädige’ befindet sich auf Reisen.

Möchten Dich meine Zeilen froh und gesund antreffen. Mein lieber, lieber [Roland]! Gut Nacht! Behüt Dich Gott! Liebster, ich küsse Dich, Du! Du!

Ich liebe Dich!

Deine [Hilde].

 

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Autor Hilde Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Hilde Nordhoff

Foto von Hilde Nordhoff. Nahaufnahme, Person im Sommerkleid, im Hintergrund Bäume.
Ba-OBF K01.Ff2_.A12. Hilde Nordhoff, 1940, Oberfrohna, Fotograf unbekannt, Ausschnitt aus Fotoalbum.

Hilde Nordhoff wurde 1920 als Hilde Laube in eine Arbeiterfamilie in Oberfrohna, eine Kleinstadt in Sachsen, hineingeboren. Sie arbeitete ein Jahr lang als Hausangestellte, dann in einem Trikotagenwerk.

Sie kannte Roland Nordhoff aus der Kantorei in Oberfrohna und trat sogar der evangelischen

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946