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[OBF-390619-002-01]
Briefkorpus

Oberfrohna, am 19. Juni 1939.

Mein lieber [Roland]!

Wie konnte ich nur so schnell fassungslos sein? Immer wieder stelle ich mir diese Frage. Nun betrachte ich das Gestern als einen bösen, schweren Druck, der jetzt von mir gewichen ist. Draußen ist Sonnenschein — in meinem Herzen ist Sonnenschein! Du, Liebster! Heute kam der heißersehnte Brief von Dir. Ich danke Dir so sehr. Ich bin so froh, daß Dir nichts geschehen ist. Nun ist es mir leid, daß ich Dich vielleicht betrüben mußte, indem ich den Niederschlag meiner Stimmung gestern niederschrieb und Dir schickte. Aber jetzt ist ja alles gut, und ich will Dir heute noch ein paar Zeilen schreiben, damit Du nicht traurig sein sollst.

Die Sorge und die Unruhe mußte doch begründet sein:

  1. Ich fand zur gewohnten Zeit Deinen Boten nicht vor, das ließ mich erschrecken und weckte die unsinnigsten Gedanken in mir. Kurz zuvor laß ich in der Zeitung von dem Eisenbahnunglück auf der Strecke Dresden – Prag.
  2. Von unserer Ausfahrt kamen wir erst nachts um 2 heim, die vielen Eindrücke, die an dem Tag so rasch aufeinander folgten; das viele, ungewohnte Tanzen ließen mich keinen Schlaf finden. Am Morgen war ich abgespannt und matt. Dazu kamen dann die Vorwürfe, die ich mir machte: Während ich mich bei Spiel und Tanz fröhlich vergnüge, bist Du vielleicht in Not und Gefahr, bist Du allein.
  3. Und eins an dem gestrigen Tage gab mir vielleicht erst den Anstoß, mich Dir in meiner Sorge anzuvertrauen. Ich war mit unserm Betrieb zu einer Beerdigung. Unser Werkführer verschied nach 48 jähriger Tätigkeit ganz plötzlich. Du kennst ihn vielleicht? Herrn P., den Vater unsres Singstundenkameradens Kurt P.? Es war das erste Mal, daß ich an einer Trauerfeier teilnahm. Ich kannte alle Angehörigen — das alles wühlte mich so auf. Zuhause die Eltern durften nicht merken, wie mir zumute war, und allein konnte ich die Ungewißheit nicht mehr länger ertragen. Du wirst mich verstehen, Liebster? Wirst nicht glauben, daß ich schwach bin?

Heute nun wurde mir durch Deinen lieben Brief Klarheit. Du ahntest schon, daß er durch die kleine Verspätung nicht rechtzeitig in meine Hände gelangen könnte. Gestern abend las ich in einigen Briefen, die wir um die Zeit unseres ersten Stelldicheins tauschten. Ein Jahr ist nun darüber vergangen, ein bewegtes Jahr. Segensreich und fördernd war es unsrer Freundschaft, das erkennen wir beide dankbar. Nichts hat mein großes Vertrauen und meine Liebe zu Dir wankend gemacht in dieser Zeit — nur tiefer und inniger fühle ich mich mit Dir verbunden. Und wir wollen zuversichtlich weiterbauen an unserm Glück.

Ach Liebster, wenn ich zurückdenke an die Zeit, wo Du mich noch mit ganz anderen Augen sahst. Reichlich 16 Jahre war ich alt, als meine Freundin mich drängte mit zur Singstunde zu kommen. Zwei- oder dreimal begleitete ich sie nur bis zur Tür — jedesmal sah ich Dich. Es zog mich immer wieder dahin und ich meldete mich im Verein an. Wie es dann kam, wie es sich fügte, Du weißt es. Die Musik — Liebster, vieles danken wir ihr, und oft war sie der geheimnisvolle Mittler für mich, um Dein Herz zu erkennen — Du! Allezeit soll sie uns zur Seite stehen. Wie lange habe ich gerungen mit dem, was in mir brannte. Was habe ich versucht, um vergessen zu können. Das Herz gab nicht Ruhe, es war gleich einer Stimme, die alles übertönte. Hatte das Schicksal ein Einsehen? Ein Umschwung zerriß das ungewisse, quälende Gleichmaß der Zeit: Dein Weggang. Die Stimme in mir wurde stärker, beunruhigte mich bis in den Schlaf hinein und es kam der Tag, an dem ich allen Mut, alle Entschlossenheit zusammenraffte und Dich rief.

Gott war mit uns — so entstand unsere Freundschaft. Sie kann so leicht nicht wanken, sie gründet sich auf Wahrheit und Vertrauen; frei und offen, ohne Hehl standen wir uns immer gegenüber und so soll es immer bleiben.

Und heute, Liebster? Heute dankst Du mir, daß es mir durch meine Liebe gelungen ist, Dein Herz zu befreien, das trotz des Eispanzers, den es um sich liegen hatte, so heiß brennen konnte. Ich bin so dankbar und glücklich darüber. —

Mit Deinem Brief kam ein Kartengruß Deiner lieben Eltern aus St. Wolfgang, ich hab mich sehr gefreut darüber. Wenn sie wieder daheim sind, will ich ihnen ein paar Zeilen schreiben. Sag, hast Du auch meinen Brief gut aufbewahrt, den ich bei Dir in Lichtenhain liegen ließ?

Ich freue mich, daß Du durch die Gäste ein wenig A[b]wechs[e]lung hast in Deiner ‚Einsamkeit’. Aber bitte, gewöhne Dir die Schlagfertigkeit der Berliner nicht gar so sehr an, ich komme ja sonst überhaupt nicht mehr auf!

Ein Plätzchen für mich ist also schwer zu haben? Müssen wir unser Wiedersehen zurückstellen, bis die Saison vorü[ber] ist? Ich fürchte, das hält keines [sic] von uns beiden aus!

Von unsrer Ausfahrt will ich Dir einiges berichten, über das übrige wollen wir uns mal unterhalten. Sonnabend früh [...] begann die Fahrt über Limbach, Wüstenbrand (Auffahrt auf die Autobahn) etwa so: Glauchau, Crimmitschau, Ronneburg, Gera, Saalfeld; daselbst das Ereignis des Tages, die Feengrotten. Schwarzburg im „Thüringer Hof” Mittag. Von da mit Pferdegespann durch’s Schwarzatal nach Rudolstadt — Kaffeepause. Gegen 6 Uhr abends zurück mit den Omnibussen nach Hohenstein in die Hüttenmühle, zum Kameradschaftsabend. Die Gegend die wir besuchten, ist äußerst reizvoll; doch mit dieser Menge und der dauernden Eile, dies Gebundensein an ein paar Stunden, verliert die ganze Sache den eigentlichen Reiz. Viel lieber möcht ich das allein mit Dir erleben. Doch die Bemühungen des Betriebsführers in Ehren: Das Reiseziel fand allgemein Befriedigung u. auch sonst verlief der Tag froh und in kameradschaftlicher Weise. Die Bilder hab ich Dir mitgebracht. Unsere behalte ich noch, Du! Viele Grüße von den Eltern. Nun Schluß für heute, ich bin ja so froh! Was muß nur der Briefträger denken?

Behüt Dich Gott, mein lieber lieber [Roland]! Ich küsse Dich, Du!

Ich liebe Dich!

Deine [Hilde].

 

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Autor Hilde Nordhoff
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Hilde Nordhoff

Foto von Hilde Nordhoff. Nahaufnahme, Person im Sommerkleid, im Hintergrund Bäume.
Ba-OBF K01.Ff2_.A12. Hilde Nordhoff, 1940, Oberfrohna, Fotograf unbekannt, Ausschnitt aus Fotoalbum.

Hilde Nordhoff wurde 1920 als Hilde Laube in eine Arbeiterfamilie in Oberfrohna, eine Kleinstadt in Sachsen, hineingeboren. Sie arbeitete ein Jahr lang als Hausangestellte, dann in einem Trikotagenwerk.

Sie kannte Roland Nordhoff aus der Kantorei in Oberfrohna und trat sogar der evangelischen

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946