Bitte warten...
Briefkorpus

Oberfrohna, am 7. Juni 1939.

Mein lieber [Roland]!

Nun stehe ich wieder mitten drin im großen Schaffen, und man sollte meinen, nach dem verbrachten Urlaub geht’s mit doppelter Lust und Liebe an die Arbeit. Ich aber muß das Gegenteil feststellen. An dieser Lustlosigkeit hat sicher zu großem Teil die unerträgliche Hitze schuld, die schon seit Tagen hier herrscht. Es wird besser werden. Aber sieh, das alles läßt sich ertragen, wenn ich zurückdenke an unsre einzig schönen Ferientage — Du, mein lieber, lieber [Roland]!

Die Erinnerung daran kann alles Trübe in eitel Gold verwandeln, kann alles überstrahlen. Gestern kamen erst unsere letzten Kartengrüße aus dem Böhmerlande an. Ja Du, ich bin am Sonntagabend mit einer regelrechten, kleinen Standpauke von den Eltern am Bahnhof empfangen worden. Sie waren so in Sorge um uns, weil sie während der ganzen Zeit nur die Postkarte von Kamenz erhielten. Ich habe eifrig beteuert, daß wir (viel mehr Du!) so fleißig geschrieben haben, daß an dem Säumen nur die langsamere, böhmische Post schuldig sein kann. Dafür hatten sie auch Verständnis; nur Mutter kam nicht so schnell über die Enttäuschung hinweg, die ihr jeden Morgen bereitet wurde, wenn sie zum Frühstück schnell mal heimsprang, um zu sehen, ob Post da wäre. Na, alles ging vorüber — weil ich nur wieder da war. Sie waren beide tüchtig froh, das habe ich gefühlt. Und das darfst Du alter Schlingel ruhig glauben! Wenn Du vielleicht auch im Stillen denkst: wer sollte sich wohl freuen, wenn dieser Wildfang heimkommt?! Die Eltern meinten, die Zeit ohne mich sei ziemlich einsam gewesen. Es gab am Sonntagabend noch eine Menge Neues zu erzählen, ich bin erst nach 1 Uhr ins Bett — ohne Gefahr zu laufen, daß die Bretter herausfallen — ohne Gutenachtkuß! Wie hast Du in Deinem schönen, breiten Bett geschlafen? Meine Rückreise ging ohne Zwischenfälle vonstatten. I[m] Abteil saßen eine ältere Dame und zwei Herren mir gegenüber. Ich hätte das Kleid doch nicht anziehen sollen. Die Männer schauen zuviel danach, ich hab mich kurz entschlossen zur Seite gesetzt und mich schlafend gestellt. Dann kam mir die neben mir sitzende Krankenschwester zu Hilfe, indem sie ein Gespräch begann; es ging um allerlei Dinge, um die richtige Art zu Reisen, um Unfälle, Vorbeugung gegen Sonnenbrand; es war ein nettes Fräulein und ich schätzte sie mindestens 50 Jahre alt, sie wollte nach Beendigung einer Privatpflege zurück nach Chemnitz in das Küchwald-Krankenhaus. Und weißt Du, wer mich in Chemnitz beim Umsteigen einholte und begrüßte? Dora P., sie war eine Woche bei ihren Verwandten in Dresden. Wir unterhielten uns ganz unbefangen und ich erfuhr, daß der Kantoreiausflug schon auf Sonntag, meinen Heimreisetag vorverlegt worden sei. Sie haben Herrn B. in Lunzenau besucht und daselbst zum Gottesdienst am Morgen 2 Lieder gesungen.

Ich bin nicht traurig, daß ich diesen Ausflug versäumte. —

Mein lieber [Roland]! Heute, vor einer Woche verabschiedeten wir uns von den Deinen, um weiter zu reisen, in's schöne, sonnige Elbtal.

Der Besuch Deines Elternhauses war für mich ein großes Ereignis und wieder ein wichtiger, bedeutender Schritt weiter auf unserem Weg. Das Gefühl mit dem ich — mit dem wir beide Dein Elternhaus verlassen, würde von Bedeutung sein — so dachte ich lange vorher.

Und nun, nachdem ich Deine Eltern kennenlernte ist die große Angst gewichen. Ich wurde so lieb und herzlich empfangen, alle waren so ungezwungen und nett zu mir, die Eltern, die Brüder und die Schwägerin[.] Ich fühlte mich nicht einmal fremd in Eurer Mitte. Mein lieber [Roland]! In der Zeit, in der ich unter Euch weilen durfte, ist mir eines recht klar geworden: Du hast in Deinem Zuhause einen unwiederbringlichen Schatz. Wenn man aus einer Welt voll geistiger Armut, voller Eintönigkeit und Gleichgültigkeit hineintritt in Euren Kreis, so weht es einem wie ein frischer Atem entgegen. Man spürt: Hier ist Einigkeit und Wahrheit, Lebensbejahung und Harmonie. Und ich fühle, [sic] diese Eintracht, diese innige Familienzusammengehörigkeit hat seine Wurzel im Einssein des Glaubens; denn er allein gibt uns Kraft, macht uns stark gegen alle verderblichen Einflüsse. Ich mußte einige Male an mein Zuhause denken: um wie viel ärmer bin ich. Ich mache den Eltern keinen Vorwurf. Vater ist von zu Hause aus nicht sehr christlich erzogen und seine Umgebung in seinem Arbeitsgebiet nährt eher das Gegenteil. Von Mutter läßt er sich schwer lenken; es fehlt ihm Herzensbildung — ich muß ihn bitten, daß er mal mit zur Kirche geht. Doch ich will die Eltern nicht anklagen. Einen Grund zur Entschuldigung sehe ich: Sie müssen beide körperlich zu viel arbeiten, das erstickt mit der Zeit im Menschen den Sinn für das Gute, Erbauliche und Schöne; es fehlt geistige Anregung und diese Menschen stumpfen ab. Sie haben wohl die Erkenntnis, daß diese Lebensart nicht gut und richtig ist; es fehlt aber einfach an der Energie, sich aufzuraffen. Ich will nicht klagen, es gibt noch ärmere Menschenkinder als ich.

Als ich am Mittwochfrüh allein in Eurem Schlafzimmer packte, trat Dein Vater zu mir und bedeutete, daß ich nun in diesen Tagen einen kleinen Einblick in Euer Familienleben gewonnen hätte und daß er nichts mehr wünschte, als daß auch wir beide die gewohnte Vertrautheit und Zusammengehörigkeit erhalten möchten. Ich konnte ihm nur stumm die Hand geben, ein so großes Glücksgefühl überströmte mich, so dankbar war ich gegen Gott, daß er mich Dich finden ließ, daß er auch den ersten Schritt in Dein Elternhaus segnete, von dem ich einen so tiefen Eindruck gewann. Haben wir nicht schon beide gespürt, daß Gott mit uns ist, auf unserm Wege? Und wir wollen zu ihm stehen, mag kommen was auch will. Wir wollen aber nicht vergessen, ihm zu danken für unser Glück und ihn zu bitten um seinen Schutz und Segen.

Am Tage des Richtfestes hattest Du die ernste Unterredung mit den hohen Herrschaften. Du Lieber, Guter, alle Sorgen hast Du mitgenommen auf die Reise, hast sie so allein getragen um zu verhüten, daß dadurch vielleicht ein Schatten fällt auf unsere frohe Erwartung. Ich muß Dir so dankbar sein, Du!

Die Tage zu zweien, sie brachten uns um so vieles näher, Liebster! Kein Mensch sonst weiß um unser Geheimnis und darum ist es doppelt süß. Wir waren ganz allein mit unsrer Liebe. Ich kann es nicht in Worte fassen, wie ich diese Zeit erlebte. Sag, können wir noch voneinander lassen? Das sehnsüchtige Verlangen, Dir körperlich ganz nahe zu sein, überkommt mich immer wieder. Ach, so quälend empfinde ich es, wenn ich wieder allein bin. Ich habe Dich unsagbar lieb, Du! Einmal schriebst Du mir, daß wir beide darüber wachen wollen, diese Freude der Sinne rein zu erhalten, sie darf die edleren Gefühle unsrer Achtung und Zuneigung nicht ersticken. Und ich will dazu beitragen, so gut ich nur kann. Du bist so stark und fest. Ich fühlte mich einige Male schwach werden unter Deinen Liebkosungen — ich fürchtete nichts, Du warst bei mir. Ich denke daran ohne Reue, Liebster! Du bist der einzige, der erste, dem ich alles schenken möchte. In manchen Augenblicken kann ich kaum fassen, daß alles Wirklichkeit war.

Heute, endlich gelangte ich in Besitz der Zeugen, die mir die Wirklichkeit bestätigen können. Die Bilder, lieber [Roland], wie hab ich mich darüber gefreut, und alle so gutgelungen, sogar die böse 13! Wie bin ich so schrecklich neugierig auf die anderen. Die Eltern finden ja großen Gefallen an dieser reizvollen Gegend, vielleicht kommen sie in diesem Jahre nochmal dahin. Ein wenig leid ist mir's, daß ich die Bilder nun wegschicke, doch ich verliere sie ja nicht für immer. Am Sonntag erwarte ich Entschädigung! Gestern konnte ich mein Schreiben nicht beenden, die Müdigk[eit] übermannte mich. Die schlimme Hitze setzt mir arg zu, die lange Zeit im dunstigen, heißen Saal hinbringen ist jetzt fast eine Leistung. Ich bin zur Pause aus der Singstunde heimgegangen, als hätte ich's geahnt, denn jetzt nach 10 kracht der Donner und die Blitze leuchten, der langersehnte Regen plätschert munter an den Fensterscheiben herunter. Nanu — ich hoffe, daß mein Licht nicht nochmal 5 Minuten wegbleibt. Sag, bist Du auch immer so müde und matt? Nun schnell noch paar Neuigkeiten — dann Schluß für heute! Die Lichtenhainer er haben jetzt G.ers von uns beiden geschrieben, eine frühere Kantorfamilie war auch zu Besuch da und erkundigten sich nach uns. Trudi vertraute mir an, daß ihr Vater sein Amt im September niederlegen wird, mir scheint, ein ähnlicher Fall wie bei Dir. Was wird nun mit uns werden? Es weiß von den anderen noch niemand davon. Der Gedanke, daß Du wiederkommen müßtest, läßt sich einfach nicht abweisen. — Wenn Du Deinen Eltern schreibst, grüße sie bitte.

Gott schütze und behüte Dich, mein lieber, lieber [Roland]!

Ich liebe Dich, ich drücke Dich fest und innig an mein Herz und küsse Dich! Du, Liebster! Behalte recht lieb

Deine [Hilde].

Karte
Kommentare
Einordnung
Gesendet am
Gesendet aus
Autor Hilde Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
Gesendet nach
Erwähnte Orte
Über den Autor

Hilde Nordhoff

Foto von Hilde Nordhoff. Nahaufnahme, Person im Sommerkleid, im Hintergrund Bäume.
Ba-OBF K01.Ff2_.A12. Hilde Nordhoff, 1940, Oberfrohna, Fotograf unbekannt, Ausschnitt aus Fotoalbum.

Hilde Nordhoff wurde 1920 als Hilde Laube in eine Arbeiterfamilie in Oberfrohna, eine Kleinstadt in Sachsen, hineingeboren. Sie arbeitete ein Jahr lang als Hausangestellte, dann in einem Trikotagenwerk.

Sie kannte Roland Nordhoff aus der Kantorei in Oberfrohna und trat sogar der evangelischen

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946