[390414–1‑1]
L. am 11. April 1939.
Meine liebe [Hilde]!
Heute Dienstag wieder in L. eingetroffen, benutze ich den letzten unbeschwerten Abend vor der Arbeit, den Brief an Dich zu beginnen. Wir hatten die Feiertage Besuch, da bin ich nicht dazugekommen.

Sonntag, den 2. April. Der Briefträger brachte nichts. Und ich hatte [s]o darauf gewartet. Mein Bruder Hellmuth wollte in den Ferien nach Paris fahren. Es ist nichts d[a]raus geworden, eine Einreiseerlaubnis fehlte. Seine Frau fuhr nach Hause (G. bei L.), er kam Sonntagnachmittag zu uns und blieb bis Donnerstag. In seiner Gesellschaft wurde mir das Warten auf Deinen Brief verkürzt. Montag wieder nichts. Ich war in Sorge um Dich. Damit die Stunden schneller hingingen, entschloß ich mich zum Zahnarzt zu gehen und verschob meine Reise nach G. auf Gründonnerstag. Der Zahndoktor hat mich ganz schön geschun[d]en. Heute, vor meiner Abreise, war ich noch einmal bei ihm. Dienstag. Endlich, liebe [Hilde], kam Dein Brief, Dein langer Brief, Du! Nun konnte ich wieder froh sein. Mit dem Bruder haben ich das Städtchen unsicher gemacht. Wir besuchten am Mittwoch das Stadtmuseum und Lessingmuseum. ‚Lessingstadt K.’. Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Dichter, Theaterdichter, Schriftsteller, Kritiker; Pfarrerssohn, sehr begabt, „Ein Pferd, das doppelt Futter braucht“ sagen schon seine Lehrer.
Donnerstagmorgen bin ich also gereist. Nicht gern zunächst. Die Ferien begannen eben zu wirken, die neue Ordnung und Behaglichkeit. Mehrere Nächte hatte ich nicht schlafen können, eine Hauptstraße geht unter unseren Fenstern vorbei. Aber ich hatte es nun einmal fest zugesagt. Die Reise zum Freund ist immer eine Anstrengung. Wir wandern, führen anstrengende Gespräche. Es ist für mich immer auch eine Art Rechnungslegung für den vergangenen Zeitabschnitt. Ich kehre an den alten Wirkungsort zurück, bin genötigt zu vergleichen, das ist geblieben, das hat sich geändert, betrachte dann mich selbst: und sehe, das ist geblieben, das hat sich geändert. Liebe [Hilde], Du weißt darum, was sich geändert hat bei mir. Du! Du bist schuld, daß ich weniger gern reise, weil ich mich dann von Dir entferne und nicht so ungestört zu Dir denken kann. Du bist meine Unruhe. Liebe [Hilde], wann wird ^sie einmal aufhören? Du! Ob auch von Dir gesprochen worden ist? Entschuldigend, daß ich ihn so lange nicht Besucht habe, habe ich auch gestanden, daß ich außer den sonstigen Abhaltungen aller 4 Wochen ein umständliches Stelldichein habe. Die blanke Wahrheit, nicht wahr? Von Frauen und vom Heiraten haben wir auch schon immer, wenn auch nur wenig, und in besonderer Art, erzählt. Wenn es auf der Rast beim Kaffee am gemütlichsten ist, dann führt das Gespräch darauf. Es ist dann meist eine Rückschau und Beichte des alten Herrn, ein Beweis seines großen Vertrauens zu mir, er ist doch nun etwa 67. Ich habe zu diesem Gespräch wenig beizutragen. Es sind keine Geheimnisse und Abenteuer, die er zu berichten hat. Er erzählt von seiner Frau, erzählt von ihr achtungsvoll und dankbar. „Daß ich diese Frau heiratete, war das größte Glück meines Lebens. Du hast sie gar nicht verdient, sagen meine Bekannten.“ Oberlehrer Kaiser ist unpraktisch, nachlässig und bequem in äußeren Dingen, seine Welt sind die Bücher. Seine Frau ist klug, ist aber literarisch wenig interessiert, ihr Sinn ist auf eine gute Häuslichkeit und auf[’]s Praktische gerichtet. Damit ist sie für ihn eine glückliche Ergänzung. Wir beleuchteten diesmal Vorzüge und Nachteile verschiedener Frauentypen, und Du wirst mir nachfühlen, daß mich dieses Gespräch innerlich bewegte. Es drängte mich, meinem väterlichen Freund als einem guten Eckart mehr anzuvertrauen, ihm Dein Bild zu zeigen, ich hatte es bei mir. Ich tat es aber doch nicht. Liebe [Hilde], die Anerkennung und Zustimmung guter Freunde, der Eltern und der Geschwister, bestärkt uns, macht uns sicher und gewisser. An einem Sonntag in den großen Ferien, habe ich gedacht, Dich einzuladen, meine Eltern zu besuchen. Du! Ich vertraue Dir!

Wir tuen keinen Schritt vergebens. Von dem wichtigsten Erlebnis dieser Reise berichtete ich schon. Sonnabend kehrte ich mit einem kleinen Abstecher nach Dresden von meiner Reise zurück, hoffend, nun noch zwei Tage häuslicher Ruhe und Geborgenheit zu genießen. Wir besuchten den Gottesdienst am Ostersonntag. (Als wir heim) Am Nachmittag fuhren wir zum Osterreiten nach Kloster Marienstern. Das Osterreiten ist ein alter Brauch vielleicht aus heidnischer Vorzeit. Bauern und Bauernsöhne schmücken die Pferde — gekräuselte Mähnen, verziertes Zaumzeug, feine Satteldecken — und reiten im Bratenrock und Zylinder um die Fluren. Eintönige fromme Weisen singend erflehen sie Wachstum und Gedeihen für ihre Felder. Die Bauern mehrerer Dörfer tun sich zusammen und bilden so einen stattlichen Zug (diesmal 76 Paare). Die ersten Reiter tragen Prozessionsfahnen, ein Crucifix, Heiligenbilder. Gegen 3 Uhr trifft der ganze Zug im Kloster ein und unter Glockengeläut wird der mächtige Klosterhof dreimal umritten. Das ist das Osterreiten. Ein schöner Brauch, alljährlich der Anziehungspunkt von Fremden aus allen Gegenden. Ich bin etwa das fünfte Mal dagewesen. Die Klostergegend ist eine richtige Ostergegend. Als wir heimkamen, hatten wir Besuch, einen bedauernswerten, heimatlosen Freund und Kollegen meines Bruders. Er lebt getrennt von seiner Frau. Kopfhängerisch und ausgehungert sprach er bei uns vor, weil er den Bruder in B. nicht angetroffen hatte. O, es gibt Schicksale! Wir haben ihn gern aufgenommen und behalten. Am 2. Feiertag kam noch mehr Besuch. Vorbei war es mit der Ruhe, und am Abend war ich ganz erschöpft, nachdem [sic] wir den Besuch zur Bahn gebracht hatten. Nun ließ es auch schon wieder an die Abreise denken. Es ist wenig geworden diese Ferien.
[So] habe ich Dir das Wichtigste berichtet. Ich bin wieder in meinen gewohnten vier Pfählen. Es ist noch wenig Lust zum neuen Anfang. 16, 15, 14 Tage bis zum 30. April, das ist mein Kalender, Du! Ich weiß schon nimmer wie Du aussiehst, wie groß Du bist und vieles andere. Ich danke Dir noch recht sehr für Deinen letzten Besuch, den ich Dir so kurz vorher vorschlug.
Jeden Tag habe ich ein Stück an diesem Briefe geschrieben. Morgen ist Sonnabend. Von 3 bis 6 Uhr werde ich mich am freiwilligen Hilfsdienst am Schulbau (Grundgraben) beteiligen. Da muß der Brief heute noch fertig werden. Am Sonntag werde ich fleißig Deiner denken.
Mein ganzes Hoffen und Sehnen und Denken geht um Dich, Du! In zwei Wochen, will’s Gott, habe ich Dich bei mir, und in sechs Wochen, Du!, wollen wir reisen! Bleib froh und gesund. Bitte grüße Deine Eltern.
Ich möchte Dich küssen, ich hab’s schon wieder verlernt,
ich möchte Dich festhalten, es ist nur mein Kissen das neben mir liegt.
Meine liebe [Hilde], es grüßt Dich recht herzlich
Dein [Roland].