[390408–1‑1]

Meine liebe [Hilde]!
Es ist doch so notwendig, und es ist ein Glück, daß es in den Ferien möglich ist, einmal Abstand zu nehmen vom Tun und Schaffen, und es von anderen Standpunkten aus zu betrachten und zu überblicken. Bei diesen Ausblicken bist Du mir stets gegenwärtig. Die Sorge um Dich, um uns, um unseren Weg, liebe [Hilde], folgt mir dabei wie mein Schatten.
[W]as ich vom Elternhaus aus sah?
Wir haben gesäumt, liebe [Hilde], wir haben Zeit versäumt. Wir konnten schon weiter sein. Das empfand ich schon, als ich den letzten Brief schrieb und die Gelegenheit sich darbot, Dich einzuladen. Das empfand ich noch stärker, als am Mittwochabend meine Mutter mich aufforderte, Dich einzuladen. Ich sagte dazu bestimmt und ohne Zögern: „Es ist noch nicht so weit.“ Das hat mich dann einen ganzen [T]ag bewegt und beunruhigt, und ich kam zu dem Schluß: Die Eltern haben ein Recht, diese Erwartung auszusprechen. Wir dürfen nicht mehr säumen, liebe [Hilde], die Zeit ist kurz, ein Jahr ist schnell herum.
Was ich vom Freundeshaus aus sah?
Es weilten hier zu Besuch zwei Enkelkinder des Herrn Kaiser, die Kinder seines Sohnes, des Bürgermeisters von B.. Du hättest sie sehen müssen, diese herzigen Kleinen, Junge und Mädel im Alter von 4 und 3 Jahren. Liebe [Hilde], diese Kinder waren mir eine eindringliche Predigt, deren Ernst ich nicht vergessen will.
Solche Kinder, das ist das Schönste und Beste, womit Liebende sich beschenken können. Auf dieses Geschenk zu rüsten, ist es nicht auch unsere Pflicht jetzt schon, wo wir uns doch noch nicht versprochen haben? Die Zeit ist kurz. Und das ist gewiß: Nicht Laune, Zufall, eine schwache Stunde, Sinnenrausch können die Geburtsstunde solcher Kinder sein, sondern ein starker, ernster Wille aus gesammelter Kraft, frohe und freie Hingabe, das glückhafte Bewußtsein ganzen, einzigartigen Besitzes und Einsseins.
Es war ein gesegneter Tag heute. Deine Bilder und Brief[e] begleiten mich, liebe [Hilde]. Endlich ist Schlafenszeit. Ich kann mich mit Anstand verabschieden und allein sein, mit meinen Gedanken und mit Dir. Im großen Schulhaus, oben in der Bodenkammer, ganz allein, weit weg von Dir. Ich habe Deine Bilder hervorgeholt, Deinen Glückwunschbrief. Nun bin ich gar nicht mehr müde. Dankbarkeit bewegt mich für den heutigen Tag. Froh wie seit langem nicht, bin ich, daß ich Dich habe. Und nun werde ich nicht eher Ruhe finden, als bis ich ein paar Worte darüber aufgeschrieben habe für Dich. Und nun werde ich Dich fest umfangen, heute nicht nur aus Liebe von Sor Sinnen sondern auch von Herzen. Du, meine liebe [Hilde]!
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Liebe [Hilde]! Diese Zeilen legte ich mir auf meiner Reise zum väterlichen Freund zurecht. Heute, am Sonnabend zu Mittag kam ich nach Hause, jetzt, am Nachmittag, schreibe ich diesen Brief. Er wird nur kurz, weil er morgen in Deinen Händen sein soll. Ich versprach Dir, gewissenhaft zu berichten. Das Wichtige mußte vorangestellt werden, es hat die zeitliche Reisefolge durchbrochen. Wenn dich diese Zeilen ein wenig beglücken, denn seien sie mein Dank für deinen langen Brief und deine Überraschungen. Überraschend kam das Päckchen am Mittwoch, und noch überraschender war seine Bestimmung. Mein erster Gedanke war, den Besuch der O.er Osterhasen mit dem der K. zu erwidern. Aus dem Schreiben aber ging hervor, dass es ja gar nicht der Osterhase war. Du Schlimme hast es so eingerichtet, daß ich dieses Geschenk nehmen muß, ohne es erwidern zu können. Kein Mensch sonst hat daran gedacht. Du! Du hast mich so überrascht und erfreut. Ich danke Dir aus vollem Herzen.
Ich will diesen Brief jetzt anschließen. Morgen und Übermorgen Dich diese Zeilen bei guter Gesundheit finden und recht froh machen. Viel Freude auch im Theater.
Wir haben für die Feiertage keine festen Pläne. Am Dienstag muß ich zurück nach L. In drei Wochen, will’s Gott, sehen wir uns wieder.
Bitte bestelle deinen Eltern herzliche Grüße und Wünsche für ein paar frohe, gesegnete Feiertage.
Liebe [Hilde]! Dieser Brief verläßt mich bei großer Zuversicht und Dankbarkeit.
Ich drücke Dich fest an mich, ich küsse Dich und grüße Dich recht herzlich, meine liebe, liebe [Hilde!]
Dein [Roland].