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[OBF-390226-001-01]
Briefkorpus

Lichtenhain am 26. Febr. 1939

Meine liebe [Hilde]!

Die Festlichkeiten sind glücklich vorbeigegangen. Sie standen in der zweiten Wochenhälfte im Mittelpunkte des Interesses. Ich sah ihnen nicht ohne Spannung entgegen. Alle hohen Behörden, Kreisleiter, Kreisamtsleiter, Schulrat, sie waren zur Stelle. Du weißt, ich hatte in letzter Zeit mit allen auch persönlich Fühlung. Ich trat auf als blutiger Zivilist, festlich im Smoking. Mit keinem der Herren habe ich gesprochen, bin auch nicht ins Gespräch gezogen worden. Auf Betreiben des Festleiters war ich verurteilt, musikalisch hervorzutreten. Zusammen mit meinem Nachbar G. spielte ich zum Imbiß Unterhaltungsmusik und leitete zwei Männerchorquartette. So ungern ich mich sonst vordränge, es war mir in diesem Falle nicht ganz unlieb. Mit außerberuflichen Passionen verschafft man sich ein bißchen Respekt und hat dann leichter Ruhe vor diesen Leuten und hält sie sich vom Leibe. Die Nachfeier zog sich bis gegen ½ 11 Uhr hin. Etwas entspannt kehrte ich heim. Und nun konnten meine Gedanken umso lieber und fester zu Dir gehen. Ich hatte keinen Plan für den Sonntag. Ich habe dich heute zum Morgen schon recht lieb gehabt. Nach dem Essen bin ich ausgerückt. Verloren und verlassen bin ich über die Hohe Liebe nach Schandau gepilgert. Kaffeestation in Kaffee Häntzthal. Auf der Landstraße heimwärts. Zur selben Zeit wie vor 8 Tagen war ich in Altendorf. Ich habe fleißig ausgeschaut nach dem Pärchen, habe sie es aber nicht getroffen.

Ich weiß ja gar nicht, wo du jetzt steckst, ob noch im alten oder schon im neuen Haus. Hoffentlich geht es Deiner lieben Mutter wieder besser. Übernimm Dich mir nicht.

Ich hatte gedacht, ich müßte Dir zum Einzug etwas besonderes schreiben. Unter dem Zwange dieses Vorsatzes und unter Mithilfe mannigfach sich kreuzender Gedanken sind die folgenden Zeilen entstanden, ein Märchen, Dichtung und Wahrheit. Diese beiden auseinanderzuklauben, vielleicht macht es Dir ein wenig Vergnügen, wenn es Dich sonst (vielleicht) langweilt.

Nachdem Dornröschen durch den Kuß des Prinzen aus seinem hundertjährigen Schlaf geweckt wurde und aus seinen Kinderträumen erwachte, konnte es seine unbekümmerte Fröhlichkeit und seine sonnige Ausgelassenheit nicht wiederfinden. Es lebte hinfort zwischen Sehnen und Bangen. Heißes Sehnen überkam es nach neuen Stunden des Küssens und Kosens und Liebens. Wehes Langen erfüllte es bei dem Gedanken, daß nun der Hauch kindlich göttlicher Schöne für immer hinweggewischt sei, Bangen auch um seine Unschuld, und Bangen bei dem Gedanken an das Wort des Dichters: Mit dem Gürtel, mit dem Schleier, reißt der schöne Wahn entzwei. Und alle Unruhe des Herzens und alle Ratlosigkeit ließen in ihm diesen Entschluss reifen: Vergessen will ich den Geliebten, entfernen will ich mich von ihm, ihm nie mehr unter die Augen treten, damit auch er mich vergißt, damit ich meinen tiefen Kinderschlaf wiederfinde und meine kindliche Unbefangenheit wiedergewinne. Und es verbrannte alle Kleider, in denen es sich dem Prinzen gezeigt hatte, es vergrub alle Geschmeide und Geschenke, die es von ihm empfangen hatte, und es zerschlug den Spiegel, den Zeugen ihres Glückes. Dann packte es heimlich die nötigsten Habseligkeiten. Und als es den Prinzen weit weg auf Reisen wußte, entfernte es sich bei Nacht aus dem elterlichen Schloß. Es reiste wohl tausend Meilen weit zu dem Schloß eines Verwandten. Dort wurde es freundlich aufgenommen und voll Mitleid über die Kümmernisse des schönen Kindes, erfüllten man ihm alle Wünsche, mochten sie auch noch so absonderlich scheinen. Dornröschen suchte sich in dem alten, winkligen Schloß das heimlichste Zimmer hoch oben in einem der Türme, von dem die Rede ging, daß es dort umginge und nicht geheuer wäre. Das kleine Fenster ließ nur wenig Licht in das schmale, aber tiefe Gemach, und es gab den Blieck in die blauende Ferne. Schief waren die Wände und niedrig die Decke. Der Raum war schmal, daß man nur das rosa Bettchen stellen konnte. Hier wähnte es sich sicher. Hier wollte es vergessen. Hier wird er mich nicht suchen und nicht finden. Ausgelöscht sind alle Zeichen, ausgetilgt jede Erinnerung. Und des Tages tat sie [^]es auch ihren [^]seinen Gedanken Gewalt an. Aber des Nachts — es schlief wohl, aber es erwachte nicht munter, nicht klaren hellen Auges; es entsann sich keines Traumes, aber es war ihm, als habe es einen weiten Weg gehen müssen.

Der Prinz hatte bei seiner Heimkehr sein Dornröschen nicht gefunden und machte sich sofort auf den Weg, es zu finden. Des Tages war er wohl oft unsicher und er schwankte manchmal, ob er links oder rechts einbiegen solle. Aber des Nachts — er schlief fest nach langer Fahrt — da kam ihm Gewißheit, und wenn er des Morgens weiterzog, schwankte er keinen Augenblick, welche Richtung er einschlagen müsse. Und so gelangte er nach langer Reise zu dem Schloß, das Dornröschen zu seinem Aufenthalt gewählt hatte. Solange es noch hell war, hielt er sich versteckt in den Büschen des Schloßberges. Als die Nacht alle Umrisse verschwimmen ließ, schwang er sich auf die Mauer des Schloßhofes und mit lauter, flehender Stimme rief er seinen Liebling, sein Dornröschen. Dreifach brach sich das Rufen an den Ecken des Schlosses, und dreifach gab das Echo Antwort von den Bergen. Schon bei Tage war eine seltsame Unruhe über Dornröschen gekommen. Nun, bei dem Rufen, wollte ihm das Herz springen. Um jedes Aufsehen zu vermeiden, und damit nicht fremde Menschen hinter sein Geheimnis kämen, öffnete es sein Fenster. Mit feiner, aber durchdringender Stimme rief es hinunter, und in seiner Stimme lag alle Ratlosigkeit, lag aller Schmerz über die mißlungene Flucht: „Ich lasse [d]ich nicht ein. Ich will dich vergessen. Unerreichbar bist du bin ich dir. Ich zerriß deine Briefe, ich verbran[nt]e deine Bilder, ich vergrub deine Geschenke...“ Und als es nun seine Aufzählung erschöpft endete, da sprach der Prinz, und in seiner Stimme lag Zuversicht und Güte und Zärtlichkeit: „Und, Liebling, dein Herz? Ließest du es zurück, wohin brachtest du es, nahmst du es mit beim Umzug?“ Darauf ward ihm keine Antwort. Und jubelnd und singend zog er ab: „Ich kann warten. Ich komme wieder. Und du wirst mir öffnen!“

[Spalte Links]

 

Und nähmest Du dir Flügel

 

und flögest über Meer,

 

verbärgest [sic] Dich im Hügel

 

und dichter Wald ringsher,

 

und hülltest Dich in Schleier

 

und schlössest fest Dich ein:

 

zerreißt Du nicht Dein Herze,

 

dann bin ich immer Dein.

 

 

[Spalte Rechts]

 

An allen Enden,

 

in allen Winden,

 

ich will Dich suchen

 

ich werde Dich finden.

 

Und Deines Herzens Schläge

 

die sind mir Ruf und Zeit,

 

und Deiner Sehnsucht Seufzer,

 

sie sind mir Weg und Leit.

 

 

[Spalte Unten]

 

Je weiter Du mich fliehest,

 

je einsamer Du gehst,

 

ich bin Dir umso näher,

 

und — hab nur fleißig acht [sic] —

 

Dein einziger Geselle

 

bei Tag und auch bei Nacht.

 
Vergiß mich nicht beim Umzug, liebe [Hilde]. Dieser Bote pocht an Dein neues Kämmerlein. Ich küsse Dich und grüße Dich recht herzlich, meine liebe [Hilde], Du!

Dein [Roland].

 

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946