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[OBF-390221-001-01]
Briefkorpus

Lichtenhain am 21. Febr. 1939.

Meine liebe [Hilde]!

Was vor Jahren die Phantasie ungewiß verlockend und berauschend ausmalte, was dann später zu gewissen Zeiten als heißes Sehnen und Verlangen mich überkam und in Träumen mich beunruhigte, am Samstag ward es Wirklichkeit: Ich hielt ein Weib in meinen Armen. Wie Kinder am Weihnachtsabend im ersten Erstaunen, so ließ uns dieses Erlebnis verstummen, es bedurfte keiner Worte. Meine Sinne waren ganz bei unserem Spiel, ich hatte keine Gedanken. Gedanken kamen erst wieder, als ich daran dachte, daß Du wieder fort müßtest, als ich innerlich mich wieder von Dir verabschiedete. Das begann schon am Nachmittag. Ach liebe [Hilde], Du, gestern gegen Abend überkam mich doch eine große Traurigkeit. In den Kissen war noch der Duft Deiner Kleider. -- Alles, was ich sagte [a]uf der Fahrt nach Dresden, war wenig gereimt und war nur Ausdruck meiner Abschiedsstimmung. „Behalte mich lieb!“ Sorge Dich nicht darum. Der vergangene Sonntag war nicht ein Tag der Prüfung, er war die Fortsetzung und das Ergebnis unser vorigen Begegnung, die mich Deines Besitzes so froh werden ließ. Du zu sagen und Dich zu küssen, das hatte ich mir vorgenommen. Ich konnte den Tag kaum erwarten, an dem ich Dir damit meine Dankbarkeit und herzliche Zuneigung zu erkennen geben wollte. Wohl zwanzigmal habe ich mir alles vorher ausgemalt, so wie es nun kam. Als ich sich dann alles erfüllen merkte, da stockten Atem, Worte und Gedanken — Du mußt es gemerkt haben. Ach liebe [Hilde], Du, es war nicht richtig von mir zu sagen, Du seist allein die Schenkende gewesen. Am Anfang unsrer Begegnung stand mein Geschenk, und was dann folgte war gegenseitiges Beschenken. Mit dem Du ließen wie unsre Empfindungen freier strömen, und wie eine gestaute Flut durchbrachen sie den Damm der Zurückhaltung. Es war alles Zeichen höchsten Vertrauens. Ich danke Dir so sehr. Wenn sich leis der Vorwurf ergeben will, ‚Du gingst zu weit, Du nahmst Dir zu viel’, so steht dagegen der Gedanke auf: In den entscheidenden Stunden unsres Lebens sind wir nicht Herr unsrer selbst, in den entscheidenden Stunden ist immer auch Wagnis, und diese Stunden bringen uns voran, in diesen Stunden will es sich fügen. Und darauf vertraue ich, daß es sich fügen will zwischen uns, daß wir nicht gegen, sondern mit dem Geschick gehen. In diesem Vertrauen bestärken mich mancherlei Anzeichen, liebe [Hilde], vor allem auch dieses eine: daß Du in Liebe zu mir entbranntest, ohne daß Du Dir über die Gründe ganz Rechenschaft geben könntest. Das Weib hat von Natur einen besonders feinen Sinn für das, was sich fügen will und fügen soll. Dieses Vertrauen enthebt uns freilich nicht des Bemühens um ein inniges Verständnis. Frohgemut und zuversichtlich wollen wir daran weiterarbeiten. Mein Verlangen ist nur größer geworden, Dich öfter und länger bei mir zu haben. Noch manche Stunde möchte ich in deinem Antlitz lesen. Alle möchte ich sie verstehen lernen, die feinen Zeichen und Regungen. Ich will dich noch lieber gewinnen, Du liebes, herziges Mädel, Du, Du.

Meine liebe [Hilde]! Heute Donnerstag muß ich nun den Brief noch wegbringen, damit es sich richtig kreuzt; einen Schluß muß ich noch finden. Ach liebe [Hilde], wie schwach und matt scheinen mir alle Worte seit dem Sonntag, das geschriebene Dir so blaß und matt. Die Herzlichkeit und Süßigkeit uns[e]rer Briefe ist weit überholt, wohl für immer. Nun ermesse ich erst recht, welch großen und kühnen Sprung unsre letzte Begegnung bedeutet. Sie war nicht weniger bedeutsam als die vorhergegangene. Ich bin gespannt auf Deinen Brief. Denkst Du wohl gern an die kurzen Stunden [z]urück, an die vielen Süßigkeiten? Denkst Du daran auch ohne Reue? Die Liebe bringt manche Süßigkeit. Ich verachte sie nicht, ich schätze sie, und schätze sie auch richtig ein. Wie ein Mund zum küssen einladen kann, das hatte ich bisher nur immer leise zweifelnd gelesen, am Sonntag lernte ich es verstehen. Des Verlangens nach diesen Süßigkeiten — von unsauberen Gesellen sind sie allezeit beschmutzt worden in Wort und Bild —, meines Begehrens, ich schäme mich dessen nicht vor Dir. [Ic]h werde sie jederzeit mit Ernst und einer gewissen Scheu nehmen und erwidern müssen. Du verstehst mich darin, liebe [Hilde]. Ich habe mich ja so gefreut über dein natürliches, gesundes Empfinden. Auf dem Wege zum Tanzplan vor 14 Tagen habe ich ein Langes und Breites mit mir über das Du philosophiert. In diesem Du kann wenig und doch auch alles liegen. Dieses Du ist eigentlich eine deutliche Scheidung: Du und ich; dort Du, hier ich — und bringt damit doch erst recht eine enge Verbindung, eine vertrauliche Gemeinsamkeit zum Ausdruck. Indem ich ‚Du’ zu Dir sage, stelle ich mich Dir gegenüber und bringe sage damit: ‚mein’. Dieses Du wollte ich ursprünglich für den letzten Schritt aufheben. Aber ich bin doch der Meinung geworden, daß es noch zur Prüfung gehört, daß es nicht unwichtig ist, sich auch in solch vertrautem Umgang kennen zu lernen. Wir dürfen es mit gutem Recht gebrauchen. Es sollte Dir die letzte Gewißheit meiner ernsten Absicht geben und dich stark machen gegen alle Zweifel von innen und außen. Das Du soll es uns erleichtern, noch besser auf das Wesen des anderen einzugehen. Es wird für mich niemals ein Freibrief sein für unziemliche Wünsche, es wird mich nur noch mehr verpflichten und den Ernst und die Größe unsres Vorhabens nur noch deutlicher empfinden lassen.

Wann wir uns wiedersehen können? Den 12. März habe ich in Aussicht genommen. Das Wie und Wo muß sich erst noch entscheiden. Unter den Möglichkeiten befindet sich auch die von Dir angedeutete eines Besuchs im neuen Heim. Zum Umzug alles Gute, zum Einzug Glück und Segen! Das sollst Du mit herzlichen Grüßen auch Deinen Eltern bestellen, bitte. Am Montag und Dienstag sprach ich mit unserm O[rts]g[ruppen]-Leiter, ich brachte ihm mein Amt zurück. Das hat mich star[k] beschäftigt. Das nächste Ereignis ist die Grundsteinlegung, Sonnabend 16 Uhr. Denk ein bissel an mich, Liebes, Herziges. Liebe [Hilde]! Wir wollen über den Süßigkeiten nicht das andere vergessen, das besser und fester bindet und länger dauert. Wir wollen auch nicht vergessen zu danken und zu bitten. Wir wollen uns mühen und Gott bitten, die Mühe zu segnen. Erst dann dürfen wir uns dieser Süßigkeiten guten Gewissens freuen, so wie am vergangenen Sonntag.

Ich denke daran froh und ohne Reue. Ich drücke Dich zuversichtlich fest an mich, ich küsse Dich und grüße Dich recht herzlich,

meine liebe [Hilde]! Du!

Dein [Roland].

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Autor Roland Nordhoff
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Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946