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[OBF-390209-001-01]
Briefkorpus

Lichtenhain am 9. Februar 1939.

Meine liebe [Hilde]!

„Sorgen kommen, und Sorgen gehen.“, diese Worte haben mich zum Philosophieren verleitet. Philosophieren ist unnütz und unpraktisch, es ist das Ringen um Klarheit und das Suchen nach der Wahrheit. Die letzte Wahrheit muß dem Menschen verborgen bleiben, trotzdem sucht er immer wieder, sie zu ergründen.

Dem Ausspruch oben sind die andern gleich darin, daß sie

Die Zeit heilt alle Wunden.

 

Es wächst über alles Gras.

 

Undank ist der Welt Lohn.


das Verhalten der Welt registrieren, daß sie Tatsachen unverfüllt, offen aussprechen. Erfreuliche oder unerfreuliche Tatsachen? ‚Die Zeit heilt jeden Schmerz’. Wahr ist es, aber ist es nicht traurig? Wir Menschen geben nach, wir vergessen, wir werden wieder fröhlich. Ist das nicht schwächlich, unbeständig, launenhaft, oberflächlich, unzulänglich? Der Hund, der aus Gram über den Tod seines Herrn nicht mehr frißt und ihm nachstirbt; der Knecht, der sich mit seinem Herrn lebendig begraben läßt: welch hohe Auffassung! Hier ist der Menschlichkeit Trotz geboten, hier bäumt es sich auf gegen die irdischen Tatsachen, und die Treue kommt zum Siege. Ja, dieser menschlichen Schwäche Vergeßlichkeit steht gegenüber die göttliche Idee der Treue. Es ist die höchste Forderung, mit der Jesus Christus vor die Menschen tritt: „Sei getreu bis in den Tod!“ und „Treu will ich euch erfinden!“ Einzig die Treue, und sei es nur ein kleines Stück, adelt das Leben des Menschen: Treue im Dienst, Treue in der Liebe, treues festhalten an einer Sache oder an einem Glauben, den man als richtig und gut erkannt hat, treu sein sich selbst. Treu sein ist in gewissem Sinne auch starr sein. Das Gegenstück zu Treue ist Verrat. Treue im Gedächtnis ist die Voraussetzung für das Empfinden von Schuld und Dankbarkeit und damit für Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein.

Jawohl, der irdischen Tatsache „Es wächst Gras über alles“ steht gegenüber die uns von Jesus Christus geoffenbarte Tatsache: ‚Nichts wird vergessen, es ist ein Gott, zu richten und zu strafen.’

Ich glaube das.

Wenn ich das Gleichnis vom Schalksknecht behandle, schäle ich diesen Gedanken heraus:

 

Tief eingraben wollen wir in unser Gedächtnis unsre Schuld und, was wir Gutes empfingen von anderen,

 

 

damit wir nicht in alte Fehler zurückfallen und damit wir dankbar sind.

 

Klein anschreiben wollen wir, wenn andre uns wehetaten [sic],

 

damit wir leicht verzeihen und nicht lange nachtragen.


Treu sein müssen, Treue bewähren müssen: ich glaube, das ist mein Schicksal. Von daher bekommen auch mein Ernst und mein Mißtrauen einen Sinn. Dieses Mißtrauen ist eine Sicherung, ein Wächter, daß ich mich nicht an Falsches, Unwürdiges, Wertloses verschenke.

Das ist ^ mir bei der Trauung der feierlichste Augenblick, von dem aus die Ehe ihren Adel erhält: „..., bis das der Tod euch scheidet“. Natürlich ist das nicht, alles Edle hat etwas Unnatürliches, Widernatürliches, es ist ein sittliches Gebot, ein Gesetz, eine Verpflichtung.

Liebe und Güte verschenken müssen, beglücken müssen: das scheint mir Ihr Schicksal zu sein. Treusein, ich glaube, das ist das beste Geschenk, das ich Ihnen bringen könnte. Treu sein möchte ich einem Menschen. Die Werte an Dora P. sind eine Klage darüber, daß ich nicht treu sein konnte. Ich durfte es in Oberfrohna nirgends: In der Schule schippte man mich von einer Arbeit zur andern, in der Kirche konnte ich mich nicht bewähren, und in der Liebe zu einem Menschen konnte ich es auch nicht. Das hätte ich auf die Dauer nicht ausgehalten.

Das ist nun eine richtige Predigt geworden, keine Strafpredigt, liebe [Hilde]. Ich habe mich ja so gefreut über Ihre lieben Worte, über Ihr feines Verständnis, und ich weiß, die Liebe diktierte das vorangestellte Wort, froh wollen Sie mich machen, Sie liebes, herziges Mädel. Sie selbst beherzigten dieses Wort nicht, sie blieben treu, Sie hielten das Schicksal auf. „Ich wollte tapfer sein, das Unvermeidliche tragen — und doch mußte ich unterliegen.“ [Siehe Ausschnitt aus dem ursprünglichen Brief.]

Diese Niederlage war auch ein Sieg, ein Sieg der Treue und Beständigkeit. Und auf meinen Ernst und meine Treue bauten Sie, als Sie mich riefen und hofften, daß ich Sie hören würde. Uns[e]re Freundschaft begann unter guten Vorzeichen, und meine Hoffnung ist größer denn je, daß wir zueinander finden, uns verstehen und glücklich ergänzen, meine liebe, liebe [Hilde].

Vom vorigen Jahresessen ist mir nicht mehr viel in Erinnerung, Ihre Person gar nicht mehr. Helfen Sie doch bitte meinem Gedächtnis etwas auf die Sprünge, wenn es sich lohnt. Sahen wir damals das Marionettenspiel? Bezeichnend, was mir doch in Erinnerung geblieben ist: Ich kam etwas spät. Ich setzte mich an den Tisch der Alten und Honoratioren, dem jungen Volk den Rücken zukehrend. Ich tat mir weh damit, aber ich war so gestimmt, unglücklich im Innersten, daß es mir so gerade recht war. Ich habe mit oft selbst weh getan, und bin streng gewesen gegen mich selbst, und mußte es sein. Als Sie mir in der Kirche gegenübersaßen, da zog es mich mit allen Fasern sitzenzubleiben. Mit aller Gewalt zwang ich mich fort, um nicht schuldig zu werden an dem jungen Mädchen, und um den Gottesdienst nicht zu entweihen. Und streng bin ich noch gegen mich aber jetzt ist es nicht mehr so schwer, es ist jemand, der unsichtbar mit aufpaßt, o, es ist jetzt viel leichter, liebe [Hilde]. Seien Sie froh und dankbar, daß Sie wohlbehütet zu Hause sein können.

Am verflossenen Mittwoch war ich beim Bezirksschulrat in Pirna, um mich dort einmal in Erinnerung zu bringen. Ich bin noch nichtständig, d.h. bin planmäßiger Beamter, aber noch nicht fest angestellt. Zu Ostern bin ich 10 Jahre im Dienst, das Jahr meines Musikstudiums (1934-35) nicht eingerechnet. Dem Alter nach müßte ich nun bald die letzte Stufe erklimmen: ständig werden. Das konnte ich schon bislang auf Bewerbungen hin, aber das hält schwer; verheiratete, alte Kämpfer, Alteingesessene haben den Vorzug. Der Schulrat war riesig nett. Er hat mir Hoffnung gemacht, daß ich in Lichtenhain ständig werden kann, wenn meine Stelle zu einer ständigen erhoben wird, und das steht beim Ministerium. Das bedeutet nun nicht, daß ich mein Leben lang hier hauchen müßte, es ist nur die letzte Gelegenheit, einmal einzurücken. Ich habe dem Schulrat gesagt, daß es mein Wunsch ist, einmal in eine Stelle zu gelangen, wo ich meine musikalischen Fähigkeiten noch besser entfalten kann. Die Frage des Aufrückens ist hauptsächlich eine Finanzfrage. Ich erhalte jetzt monatlich 182,86 M ausgezahlt und bekomme dann etwa 200,00 M. Wäre ich verheiratet, erhielte ich dann ungefähr 220,00 M. 20 M werden vom Junggesellen weggesteuert, oder, 20 M sind für die Frau gerechnet. Das darf ich Ihnen nicht verschweigen. Noch in diesem Jahre Monat soll der Grundstein gelegt werden zur neuen Schule. Sie kennen den Bauplatz, H.s gegenüber. Das wird dann ein angenehmeres Arbeiten.

„Einen Sonntag will ich ja doch zu Ihnen.“ Nun sind wir ihm endlich wieder näher. Ich habe gedacht, daß wir den Sonnabend einbeziehen von Mittag an*, damit wir uns ein paar Stunden länger haben. Im übrigen machen wir die Einzelheiten vom Wetter und vom Theaterspielplan abhängig.

Morgen bin ich wieder im Gesangverein, am Sonntag vertrat ich den Kantor.

Meine liebe [Hilde]! Ich bin heute zum Scherzen nicht aufgelegt. Es ist mir nichts verquer gegangen, ich bin auch ganz gesund und denke Ihrer nur umso herzlicher. Wir sind uns in den letzten Wochen und Monaten viel näher gekommen, und ich fühle es, wir stehen im Begriff, uns wieder einen bedeutenden Schritt zu nähern. Es ist das Vorrecht Ihrer Jugend und Ihres Temperamentes (— und Sie wissen, daß ich Ihnen das nicht verüble, im Gegenteil) — das Stichwort zu geben, womit ich nicht sagen will, daß ich mich der Verantwortung entziehen will. (Eins bitte ich Sie: brauchen Sie dafür nicht mehr das Wort Frechheit, es ist mir ein häßliches Wort). Ich erkenne darin froh Ihre Zuversicht und das Vertrauen zu Ihrer Kraft. Sie haben mir meine Ruhe genommen. Unruhig bin ich wie in den Tagen, da ich verliebt war. Sie sind so gut zu mir: Sie reichen mir Ihre liebe Hand, ich darf meinen Arm um Sie legen. Wenn ich Sie küsse, soll es mehr bedeuten als nur Dankbarkeit.

Den Schluß mögen ein paar Worte bilden. Sie sind im Ton, Volksliedton, nicht ganz originell, sie fielen mir um Weihnachten ganz unversehens ein; sie gehören Ihnen.

 

Ich weiß ein Mädchen, hold und fein,

 

Das wartet auf die Liebe mein.

 

Ein Zauber rührte an Ihr Herz

 

und weckt der Liebe Lust und Schmerz.

 

Ich weiß ein Gärtlein, schmuck und fein,

 

das hält und hegt Sie mir allein.

 

Zwei Knospen und ein Rosenmund

 

verheißen Wonne manche Stund’.

 

Ich weiß ein Herz, das für mich schlägt,

 

das mit mir lacht und weint und trägt.

 

Ich halt des Herzens Schlüsselein,

 

klopf ich nur an, Sie läßt mich ein.

 

O, wieviel Glück: der erste sein,

 

in einem feinen Gärtelein;

 

O, welches Glück, der einzge sein

 

in einem Herzen gut und rein.

 


Wenn sie Ihnen gefallen, dann geben Sie dem Boten einen Kuß, ich will am Sonntag nach 8 ein Viertelstündchen ganz mäuschenstill halten.

Bitte grüßen Sie Ihre Eltern.

Bleiben Sie gesund. Behüt Sie Gott, meine liebe [Hilde]!

Es grüßt Sie recht herzlich,

Ihr [Roland].

 

* Also O. ab ... oder ... .

 

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Ausschnitt aus dem Brief.

Ba-OBF K02.Pf1.390209-001-01a.jpg. Ausschnitt aus dem Brief.

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946