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[OBF-390203-001-01]
Briefkorpus

Lichtenhain am 3. Febr. 1939.

Meine liebe [Hilde]!

Im vorletzten Briefe schrieben Sie: „Ich dachte an Sie, während Sie fleißig arbeiteten“. Das ist allzu respektvoll gesprochen von meiner Arbeit, zumal von meiner Arbeit gegen 22 Uhr. Ach [Hilde], sie hat gar nicht geschmeckt vergangene Woche. Die Gedanken laufen mir immer davon. Jede freie Minute kreisen Sie um Ihr Wesen und um unsre Freundschaft, es sind gar nicht immer bestimmte Gedanken, aber sie bedeuten eine Ruhe, eine Zuflucht. Das ist so, seit wir uns kennen. Und mit der selben Ungeduld erwarte ich das Zeichen von Ihrer Hand, Ihren Brief, den letzten mit besonderer Ungeduld. Die einzige Sorge, die mich vom letzten Beisammensein heimbegleitete: Dora P.. Daß sie mich erkannt hat, davon bin ich fest überzeugt, und hat sie mich nicht deutlich gesehen, so hat sie mich gespürt. Ich habe seit dem noch keinen richtigen festen Schlaf wieder, es läßt mich jemand nicht schlafen. Liebe [Hilde], ich kenne Dora P. nur von Ferne, so wie Sie. Es konnte mich mit ihr also auch echte Liebe nicht verbinden. Ihr äußeres Wesen hatte für mich Anziehendes und Abstoßendes. Die Weichheit, die Zurückhaltung, der Stolz, ihr Gang, der vorwiegend ernste Ausdruck ihres Gesichts zogen mich an, ich dachte mir ihre Umarmung recht innig. Ihr Profil mit der drückenden Stirn und der aufwärts gebogenen Nase hatten etwas Abstoßendes. Der Gedanke, daß sie kränklich sei, hielt mich davon ab, ihr näherzutreten. Ich weiß nicht, wie ernst sie meine Blicke genommen hat, ich weiß deshalb auch gar nicht, welche Wirkung ein Schreiben haben würde.* Ich hatte nur einen Wunsch, sie möchte sich leicht mit allem abfinden, und eine Sorge, sie möchte es nicht verschmerzen können. Ich bitte Sie, liebe [Hilde], begegnen Sie ihr mit Schonung, nehmen Sie den Stolz, den der Schmerz jetzt vielleicht doppelt hervorruft, nicht böse. Und wenn sie Ihr Vertrauen suchen sollte, bitte schenken Sie es ihr, ich vertraue Ihrem Geschick und Ihrer Geistesgegenwart. Diese Zeilen sollen Sie nicht betrüben, sie sollen nur meine Sorgen zeigen. —

Die Photographien? Schönen Dank. Ich möchte das Pelztier bei mir haben und ihm einmal so recht das Fell zerzausen. —  Die böse Zunge, —  wie kann man nur, —  die verräterische Zunge! Ich habe lachen müssen. —

Heute Freitag nehme ich den Faden wieder auf. Die Sonne scheint so hell und läßt an Frühling und Sommer denken. Möchte sie uns in diesem Jahre noch oft froh beieinander finden.

Umzug, das blüht auch uns noch in diesem Jahre. Ich freue mich mit Ihnen, daß die Wohnungsfrage so gut und so rasch gelöst werden soll. Ich habe es dankbar empfunden, daß Sie zu meinem Empfang alles so hübsch hergerichtet hatten. Ihre Bemühungen um ein schönes, behagliches Heim werden in der neuen Behausung besser belohnt werden. Eine Wand im „Mädchenstübchen“ lassen Sie bitte frei. Möchte weiterhin alles nach Wunsch gehn. Es wird dann also heißen müssen: Schröderstraße 18 II, ein bißchen hoch, zum Fensterln lange Leiter und Fallschirm ratsam.

Nun muss ich Ihnen erst einmal widerspreche: Die Hitlerrede mußte vor meinem Brief rangieren. Ich habe ein paarmal gedacht; wo wird sie jetzt am Lautsprecher sitzen? Es war Hitlers beste Rede bisher. Wenn ich Parteiversammlungen besuchen muß, kriege ich Beklemmungen und Atemnot unter den Spießern und Vereinsmeiern und Amtsgewaltigen, und die Vorstellung da mittun zu müssen, bereitet mir nicht geringe Schmerzen. Die Rede hat lindernd gewirkt, sie hat mich zur Mitarbeit ein wenig ermutigt. Es ging durch die Rede ein großer Zug, und, liebe [Hilde], sie schloß so zuversichtlich: Ich glaube an einen langen Frieden. Na warten Sie, für die große Politik will ich Sie schon noch interessieren! —

Am Dienstagabend vor acht Tagen habe auch ich am Lautsprecher gesessen bis 12 Uhr Mitternacht, nachdem Sie mir den Mund so wässrig gemacht hatten. Donkay-Serenade [sic] kurz vor 10 Uhr. Richtig gezittert habe ich: Welcher Schelmenstreich wird jetzt offenbar werden? Aber nun müssen Sie mir es am nächsten Mal sagen. Bestrafung, wenns was Schlimmes war, sichere ich Ihnen zu. Unsre Schule war kurz nach 10 dran: Wu da Wälder haamlich rauschn.

Diesen Mittwoch zu Mittag kam Musik zur Arbeitspause aus Oberfrohna, aus welchem Betrieb konnte ich nicht verstehen, es war gerade lautes Gerede in der Gaststube. So könnte es leicht einmal sein, daß ich Sie hier höre. Aber ich möchte Sie ja auch sehen. Und manchmal denke ich, ob die [Hilde] auch gut folgt im Alltag, wenn ich es nicht sehe?

Ob sie zeitig genug aufsteht, damit sie in Ruhe ihr Frühstück einnehmen kann? Ob sie genug ißt? Von dem losen Füßchen will ich heute schweigen, es steht auf dem letzten Bild so bezaubernd gerade. —

Anscheinend! Oder scheinbar?

O, Sie haben ein gutes Gedächtnis, davon habe ich schon mehrere Proben. Ich werde auf der Hut sein müssen vor diesem Gedächtnis. Meines ist nicht so zuverlässig: Daß ich Sie in Bräunsdorf zuerst sah, daß sie dort schon das amerikanische Kleid trugen, daß ich mit Ihnen tanzte, weiß ich nicht mehr. Ich kam damals zu spät und weiß nur noch, daß ich darauf brannte, Fräulein Sch. zu sehen. Darauf besinne ich mich: wie Sie zum ersten Mal in der Singstunde waren, und daß Sie mit ein paar tiefen Blicken meine Aufmerksamkeit auf sich lenkten.

1) Anscheinend hat sich die Lage geändert. Es hat den Anschein, es erweckt den Anschein (also ist es möglich), daß sich die Lage geändert hat.

2) Scheinbar hat sich die Lage geändert. Nur dem Schein nach (in Wirklichkeit also nicht) hat sich die Lage geändert.

In Ihrem Zusammenhang muß es also heißen: Anscheinend hat sich’s geändert. —

„Doch wer weiß, vielleicht kann Ihnen jemand helfen?“

Nun, zunächst werde ich mich an die Person wenden, die (mich) mich dumm heißt, sie muss ja doch ein wenig gescheiter sein — o da bin ich zuversichtlich: es steck auch in meiner [Hilde] eine kleines Lachen! —

Selbstgespräch des Briefes im Briefkasten Schröderstraße 10 I.

(Herzklopfen, frohe Erwartung).

Welches Glück, solch Bote zu sein! Vollmachten und Vorrechte habe ich mehr als mein Herr. Huldvoll empfängt man mich zu jeder Stunde. Zutritt habe ich zu allen Gemächern. Bald fühle ich ihre zarten Hände, den Hauch ihres Atems. Und einmal — o Gott, wenn ich daran denke — an einem Oktobersonntag wars — — — (man öffnet den Kasten. Der Brief schreckt auf aus seinen Betrachtungen) Achtung! Mein Auftrag! Schlag die Augen nieder. Tiefe Verbeugung. Küß die Hand. Das befiehlt mein Herr zu sagen: „Guten Morgen, meine liebe, gute [Hilde]. Gut ausgeschlafen? Süß geträumt? Ich wünsche Ihnen einen recht frohen Sonntag und gebe mich der Hoffnung hin, daß Sie ein klein bissel meiner denken werden. Bleiben Sie gesund. Behüt Sie Gott.

Ihr [Roland].“

Herzliche Grüße Ihren Eltern.

 

* Ein Schreiben reizt zur Antwort und läßt eine letzte Hoffnung auf Verhandlungen. Deshalb schrieb ich ihr noch nicht.

 

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946