Bitte warten...

[OBF-390113-001-01]
Briefkorpus

Lichtenhain am 13. Januar 1939.

Meine liebe [Hilde]!

Am Sonntagabend zwischen 7 u. 8 bin ich am Bahnhof Ulbersdorf wieder hinaufgestiegen in meine Welt und meine Wirklichkeit. So kann man sagen; denn die Ferienzeit, zu Weihnachten zumal, ist mit ihrer Ruhe und Sorglosigkeit wie eine andere Welt, ein Traumland. Es fiel mir vor Jahren noch schwerer, mich davon zu trennen. Aus den Kindertagen liegt ein Zauber über diesem Traumland. Ich danke es den Eltern, daß sie mir das Tor zu diesem Land offenhalten. Doch nach den Feiertagen, wenn Vater wieder seiner Arbeit nachgehen mußt, dann spürt man es: Dieses Traumland ist nicht die Wirklichkeit. Ich bin nicht trüben Sinnes zurückgekehrt. Zu meiner Welt und Wirklichkeit gehören Sie, liebe [Hilde]. Jetzt halte ich mich an Sie, jetzt brauche ich Sie, jetzt gehen meine Gedanken viel öfter zu Ihnen. Ich habe ja sonst niemanden. Auf ein Mädchen zu hoffen, auf dem besten Freund und Kameraden, das ist wohl eine irdische, menschliche Hoffnung, aber es ist doch die schönste und wertvollste auf dieser Erde. Und seit ich an dieser Hoffnung baue, fühle ich mich froher und stärker, und die Tage scheinen mir lebenswerter. Zu denken, ich hätte Sie nicht in diesem einsamen Ort. Das gut Engelchen, das mir nachflog, so weit! Ich danke Ihnen so sehr. Hier ist ja kaum Gelegenheit, jemanden kennen zu lernen, und — beinahe noch wichtiger — mich bekannt zu machen. Sie kennen mich ja schon 2 ½ Jahr. Ich empfinde es manchmal: Wie allein steht der Lehrer in solchem Dorfe! Ein Zufall, wenn er unter den paar Kollegen oder sonst unter den Bewohnern eine verwandte Seele findet. Aber das wird erträglich, wenn man eine Zuflucht findet in einem Heim, das eine liebe Frau verständnisvoll bereitet, das Geschmack und Kultur atmet und in dem sich dann auch Noten und Bücher wohlfühlen, diese Dinge der Kultur, in das sich dann auch froh die Klänge einer guten Musik ergießen. Ein Buch in einer liederlichen Bauernstube, eine edle Musik aus dem Lautsprecher in einem ungepflegten Zimmer, sim sie sind zu bedauern, die sind wie eine zierliche Porzellantasse unter Blumentöpfen. Viele Lehrer verbauern auf dem Dorfe. „Ja, wo kleine Kinder sind--” hört man dann oft zur Entschuldigung stammeln. Man stimmt höflich zu und denkt sich manches. Sicher ist es nicht leicht, es ist eine Aufgabe, die gemeistert sein will. Und auch die schönsten Mahagonimöbel können einen Mangel hier nicht zudecken. In diesem Zusammenhang denke ich an die beiden Revolutionen, die über Mutters Einrichtung brausten. Die erste ging von mir aus. Ich war auf ein paar Tage zu einem Schulkameraden geladen, dessen Eltern in einem hochherrschaftlichen Hause wohnten. Ganz unglücklich kehrte ich nach Hause zurück. Ich schilderte Mutter die Herrlichkeit. Es dauerte nicht lange, ließ Mutter Fenster und Türen weiß streichen und sonst manche Verbesserung anbringen. Die zweite Revolution ging vom Bruder aus. Er mochte in der Schule von Wohnkultur und Stil gehört haben. Unsre Mutter hat jederzeit ein Ohr für unsere Wünsche gehabt. Aber die Großmutter--.: „Ihr müßt doch verrückt sein” (die Möbel stammten ja alle aus Großvaters Werkstatt). Trotzdem stürzten nun Säulen und Aufbauten am Vertiko, Paneelbretter verschwanden, die Ahnengalerie wanderte in ein würdiges Photoalbum, wohin sie gehört. Es blieb freilich Stückwerk; aber es waren gute Geister, die diesen Umsturz hervorriefen. Die Zeit unserer Eltern hatte wenig Geschmack.

Vor mir glänzt die Politur des Schatzkästchens. Es steht auf dem Spiegeltischchen. Am Sonntagabend habe ich ihm einiges anvertraut: die ersten drei Briefe und die zuletzt eingegangenen. Sie passen ja längst nicht alle hinein. Es ist ein ganzes Buch, ein kleines Buch von Ihrer Hand, Tausendkünstler. Sie wissen, wie lieb mir die Blätter sind.

Was ist Ihnen lieber? Wenn Sie meinen Brief am Sonnabend oder am Sonntag erhalten? Nun kommt ja der Puls unseres Briefwechsels wieder zur Ruhe, nachdem er über die Feiertage ein wenig in Unordnung geraten war.

Ich freue mich mit Ihnen über den guten Bescheid, den der Arzt Ihrer lieben Mutter geben konnte. Gott erhalte sie Ihnen noch lange rüstig und gesund und lasse sie noch manche Freude erleben. Ich freue mich, daß Sie fast wieder gesund sind und darf hoffen, Sie ganz mobil wiederzusehen. Ich wünschte mir einigemal, dem armen, kranken Mädel ein wenig begütigend über das Köpfchen streichen zu dürfen. Aber nun höre ich von einer wilden, widerspenstigen Kranken, die meine zarte Handreichung wohl kaum hätte bändigen können.

Vorgestern morgen hatte ich einen seltsamen Traum mit vielen Zimmern und Türen. Zuletzt saß die ganze Familie in unserem Wohnzimmer um den Tisch versammelt, auch Großmutter war anwesend. Da traten Sie herein aus Großmutters Stube. In aufgelöstem langen Haar, im Nachtgewand gingen Sie durchs Zimmer, und mit den Händen abwehrend sagten Sie: Jetzt können Sie mich noch nicht vorstellen. — Sie erfüllten meinen Wunsch und schrieben mir von Ihrem unfreiwilligen Urlaub. Ich habe alles mit Interesse gelesen. Und nun komme ich schon mit einem neuen Wunsch. Schreiben Sie mir bitte einmal von Ihrer Freundin. Diesen Wunsch hege ich schon eine ganze Weile. Das muß nicht im nächsten Briefe sein, ganz gelegentlich. Sie haben mir ja schon manch[es] erzählt, aber wenn man darüber schreibt, gewinnt manches festere Gestalt. Sie dürfen mir ihn auch abschlagen, ich fände das begreiflich.

Sie holten sich Fontane Roman ‚Der Stechlin’. Stechlin ist der Name eines der herrlichen Markseen. Die Mark Brandenburg, der Landadel und die besseren Kreise der Stadt Berlin sind der Schauplatz seiner Romane. Fontanes Kunst zeigt sich in den geistreichen, charakterisierenden Gesprächen seiner Personen. Die Atmosphäre der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat er meisterhaft eingefangen. Fontane lebte 1819-1898. Der Stechlin ist eines seiner letzten Werke.

Es ist gut, daß wir unsere Begegnung aufgeschoben haben. Für Sonntagnachmittag ist die Hauptprobe angesetzt. Da hätten wir wenig vom Sonntag gehabt.

Auch ich freue mich auf das Wiedersehen mit Ihnen, auf das Wiedersehen mit dem Mädchen, dem ich meine Briefe schreiben und meine Gedanken anvertrauen darf, von dem ich weiß, daß diese Gedanken in ihm einen ersten Widerhall finden.

Gott behüte Sie mir! Er behüte Ihre Eltern und die kranke Großmutter! Ich drücke Ihre liebe Hand ganz fest voll Hoffnung und Vertrauen, meine liebe [Hilde], und grüße Sie recht herzlich,

Ihr [Roland].

Karte
Kommentare
Einordnung
Gesendet am
Gesendet aus
Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
Gesendet nach
Erwähnte Orte
Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946