[381206–2‑1]
O., am 5.12.1938.
am 6.12.1938.
Lieber [Roland]!
Der endlose Sonntag ist vorüber. Mit grauen, undurchdringlichen Wolken war der Himmel verhangen; tief und regenschwer jagte sie der Wind vor sich her. Am späten Nachmittag, als ich das Paket fertig gemacht hatte, litt es mich nicht mehr daheim. Ich lief über die Feldwege dem Walde zu — diesmal gab er mir nicht die Ruhe und [de]n Frieden. Das Wetter war schuld daran. Der Sturm zerrte an den kahlen Ästen der Bäume, ich meine dann immer, daß sie seufzen. Meine Schritte gingen fast unter in diesem Toben. Trostlosigkeit rings um mich her — war so das Ende? Allein, in diesem Sterben. Ein Grauen überfiel mich. Ich lief zurück — mußte wieder Menschen begegnen, fühlen, daß ich nicht allein war.
Wie leicht und frohgemut war mir zu Sinn am vorigen Sonntag. Ihre lieben Zeilen hatten mich unserer Freundschaft wieder einmal so r[ec]ht froh bewußt gemacht. Und aus diesem Gefühl heraus schrieb ich den letzten Brief. Schrieb ich Ihnen das alles, weil ich kein Geheimnis vor Ihnen haben will. Ja warum schrieb ich es eigentlich nieder?
Mußte ich mir nicht sagen, daß ein geschriebenes Wort doppelt schwer wiegt? Und gerade in diesem Falle leicht Mißverständnisse hervorruft?
Wer konnte Ihnen denn die vielen Fragen beantworten, die beim Lesen dieser Zeilen auf Sie einstürmten?
Ohne ein Langes und Breites darüber zu verlieren, wollte ich Ihnen in kurzen Zügen das Schreibenswerteste in dieser Angelegenheit mitteilen.
Ach ich wollte ja nicht, daß es so ausgeht. Wenn ich Ihre Gedanken lese, erkenne ich mit Schrecken, in welche Gefahr ich uns[e]re Freundschaft brachte. Ich bereue ehrlich, daß ich Ihnen so weh tat, lieber [Roland].
Ich muß immer an Sie und Dora Polster denken.
Und auf welche Art und Weise habe ich Ihnen das vergolten?
Ich bin undankbar. Bitte glauben Sie mir, ich habe mit keinem Atemzug daran gedacht, Sie zu hintergehen.
Eine Freundschaft, wie sie mich mit Ihnen verbindet, kann zwischen ihm und mir nie und nimmer zustande kommen. Weil ich ihn nicht lie[ben] kann und weil ich kein Vertrauen zu ihm fassen und nicht in Ehrfurcht zu ihm aufblicken kann. Ich habe keinen Respekt vor ihm — er ist noch kein Mann.
Das vertrauliche ‚Du’ erschwerte es, abweisend zu sein. Sie dürfen nicht denken, daß ich lange mit ihm zusammen war, wenn wir uns begegneten. Den Eltern wäre das doch aufgefallen, weil ich sonst nie lange außen bin. Sie dürfen glauben, wir redeten in diesen kurzen Minuten fast nur von seiner Arbeitsdienstzeit und von der bevorstehenden Offizierslaufbahn. Ich gebe zu, daß ich dafür Interesse zeigte. Er hat das vielleicht anders ausgelegt.
Warum erwähnte ich uns[e]rer Freundschaft nicht?
Ich habe, außer meiner Freundin, noch niemanden von uns[e]rer Freundschaft gesprochen. Ich habe, indem ich es auch ihm verheimlichte, nichts Schlimmes dabei gedacht. Nun, da Sie mir alles das auseinandersetzen, sehe ich ein, daß ich mich dadurch schuldig machte.
Können Sie mir das verzeihen? Lieber [Roland], ich bitte Sie darum!
Wenn er mir einmal schreiben sollte, so schlage ich ihm eine Aussprache vor — er wird Weihnachten sicher Urlaub haben — er soll nicht glauben, daß ich zu feig bin und ihn deshalb brieflich aufkläre.
Ich will ihm Auge in Auge die Wahrheit sagen.
Stimmen Sie hierin mit mir überein? Ich bin mit Ihnen einig, diese Gefahr abzuwenden.
Lieber [Roland]! Ich will mit diesen Worten nicht meinen Leichtsinn hinwegreden — doch ich kann heute nur davon und von nichts Anderem [sch]reiben. Ich muß wissen, ob Sie mir meinen Unverstand verzeihen, ob Sie noch an mich glauben können. Ich will gutmachen.
Hat Sie der kleine Kranz heute, am Nikolaustag erreicht? Nicht böse sein, ich konnte einfach nicht übers Herz bringen, nachdem ich Ihre Zeilen las, daß Sie dieses Jahr abseits stehen müssen von der Weihnachtsvorfreude, Mutter brachte gestern Vormittag das Paket zur Post. Die Eltern lassen grüßen.
Möchten Ihnen meine Zeilen Ihre Sorgen und Ihre Traurigkeit wegwischen. Ich drücke Ihre Hand ganz fast in Hoffnung und Vertrauen und grüße Sie recht herzlich lieber [Roland],
Ihre [Hilde].