
[381212–2‑1]
O., am 11.12.1938.
am 12.12.1938.
Lieber [Roland]!
Es ist jetzt 1/2 5. Seit einer halben Stunde bin ich wieder zurück aus der Stadt (L.). Ich erledigte mit Mutter Weihnachtseinkäufe, heute am silbernen Sonntag sind die Geschäfte offen. So viel Betrieb und Kinderjubel sah ich selten beisammen. Die Helenenstraße ist ins [r]einste Märchenland verwandelt worden. An festlichen Girlanden hängen die verschiedensten Märchenbilder, mit unzähligen elektrischen Lämpchen umrahmt; abends muß das ein wunderbares Bild abgeben.
Um 4 begann das Konzert. Ich denke jetzt ganz fest an Sie und ich wünsche mir, daß ich dabei sein könnte, Ihnen zuhören.
Ob recht viele Leute gekommen sind? Die Zuhörer werden Ihnen alle dankbar sein, daran zweifle ich nicht.
Lieber [Roland]! Am Sonnabend erhielt ich Ihren lieben Brief — ich öffnete nicht ohne Herzklopfen.
Ich bin Ihnen so sehr dankbar dafür. Dankbar, daß Sie mich verstanden. An diesem Abend empfand ich, daß es unsagbar schön ist, wenn man sich frei von Angst und Sorgen recht tief in die Kissen drücken kann. Es ist ein wohliges Gefühl des Geborgenseins.
Ich bin so froh, daß die vergangene Woche hinter mir liegt.
Die Angst um Sie stand abends an meinem Bett und morgens, beim Erwachen galt ihr mein erster Gedanke.
Manchmal war ich ein wenig traurig, daß Sie an mir zweifeln konnten. Aber wiederum sah ich ein, daß die Schuld bei mir lag. Wie konnten Sie nach meinen Zeilen anders urteilen? Und noch kennen wir uns nicht ganz.
Man beurteilt einen anderen Menschen meist nach seinem eig[e]nen Empfinden. Ich kenne keinen Menschen, der so ernst und gewissenhaft ist wie Sie. Sie dürfen jetzt nicht etwa glauben, daß ich schmeicheln will!
Ihr Charakter und sein Charakter; zu denken, die Grundzüge seien die gleichen — ich sehe ein, daß er jetzt im Gegensatze zu Ihnen noch unfertig ist — das muß ich entschieden verneinen.
Man kann ihn nicht ernst nehmen, das sage ich[,] ohne ihn damit erniedrigen, oder beleidigen zu wollen. Und ich kann verantworten, wenn ich sage: Hätte irgend ein and[e]res Mädel seine Sympathie gewonnen, er wäre ihr ebenso begegnet wie mir.
Er ist im Grunde ein guter Bursche. Er ist eben, wie die meisten jungen Menschen sind, leicht enflammt, begeistert; doch er denkt noch nicht so weit, wie ein gereifter Mensch.
Ich achte Ihre Sorge um uns[e]re Freundschaft. Ich grolle Ihnen nicht lieber [Roland], wenn Sie mich auf Fehler aufmerksam machen.
Sie stehen deshalb in meinen Augen nicht als eifersüchtiger, engherziger Mensch. Nein, ich erkenne dankbar den Beweis, daß Ihnen mein Weg nicht gleichgültig ist, daß Sie durch Ihre Freundschaft mir helfen, fest stehen zu lernen im Leben.
Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, ich schätze es und ich will mir dessen immer bewußt sein.
Ihre Sorge, daß ich mein Vertrauen teilen könnte, ist unbegründet.
Sie wissen, ich kann ganz allein nur Ihnen voll vertrauen.
An dem Tage da wir uns erklären, will ich entscheiden wie mein Herz es mir sagt. Ohne falsche Rücksichten.
Es ist mit einem Bund für das Leben nicht wie mit einem Geschäft, wo mehrere Aussichten vorhanden sind und vor der Entscheidung die günstigste gewählt wird.
Nein, die Liebe ist ein festgefügtes Mal — und wahrhaft lieben kann ich nur einmal.
Ich glaube auch nicht, daß die wechselvolle Stimmung zwischen Freud und Leid auf Launenhaftigkeit zurückzuführen ist. Die Prüfung war unser Wunsch und was sie mit sich bringt[,] müssen wir tragen. Uns[e]re Freundschaft soll deshalb nicht wanken.
Sie wollen, daß ich wieder recht froh bin. Ob Sie es auch sind?
Ich möchte nun dieses Thema begraben. Die nahende Weihnachtszeit, und das nahende Wiedersehen stimmen mich so froh und ich wünsche mir, daß die böse Geschichte nicht als drohendes Verhängnis über uns steht. Viele lange Tage müssen wir warten auf ein Wiederseh[e]n. Es soll dann freudig sein — nicht ein Schatten darüber liegen.
Sage ich das auch in Ihrem Sinne, lieber [Roland]?
Am Donnerstag in der Singstunde las auch ich Ihre liebe Karte, wie hübsch Sie das geschrieben hatten. Ich danke recht schön für die Grüße. (Ich gehöre doch auch mit zu ‚allen’, nicht wahr?) Der Lichtlabend [sic] ist auf kommenden Donnerstag verlegt worden, Herr Gründer wünschte es so. Ich werde Ihrer gedenken, besonders beim Spiel Ihrer Lieder.
Am 2. Advent wurde durch Dr. Röseberg unser neuer Pfarrer, Herr Johannes Berger eingewiesen. Schön und feierlich war die Handlung, mich regt das immer sehr auf. Wenn man sieht, wie ein neuer Seelenhirt zum ersten Male zur ihm nun anvertrauten Gemeinde spricht. Wenn er so ganz seiner Aufgabe bewußt, mit Gottes Hilfe hofft, die Herzen der Gemeinde zu gewinnen, die ihm anfangs sehr kritisch gegenüber steht. Auf mich machte er keinen schlechten Eindruck. Auch viele And[e]re, mit denen man darüber spricht, setzen viel Hoffnung auf ihn.
Am Sonnabend war ich mit Mutter im 1. Bachkonzert, das als Weihnachtsliederabend ausgestaltet wurde. Es fand im Saale des ‚Schweizerhauses’ statt. Mutter und mir hat es sehr gut gefallen. Ich war ganz begeistert, waren doch so viele bekannte Lieder dabei, die wir bei Ihnen lernten. Es ist eine Lust dieser Bachgesellschaft zuzuhören. Die Stimme der Sängerin war sehr ausdrucksvoll. Ich glaub[e][,] ich werde kein Konzert versäumen.
Ich danke für den Büchereivorschlag, werde ihn fürs nächste Mal vorbehalten. Am letzten Male holte ich mir, im Zusammenhange mit uns[e]rer vorigen Begegnung, ein Buch von Friedrich dem Großen. Es nennt sich: „Vom Alten Fritz” von Dr. Wohlrabe. Herr Geißler meinte, es sei nicht so ausführlich, er will die Geschichte Friedrichs anschaffen, geschrieben von Franz Kugler und mit den berühmten Holzschnitten von Adolph Menzel. Ich blätterte nur mal flüchtig durch. Mich nimmt jetzt Swaantje und Helmold [Figuren aus: H.Löns, Das zweite Gesicht, 1911] ganz in Anspruch.— Für heute mag es genug sein, es geht auf 11 [Uhr], mein Bett winkt. Die Eltern grüßen Sie.
Ich drücke Ihre liebe Hand ganz fest in Hoffnung und Vertrauen lieber, lieber [Roland]. Schlafen Sie wohl und behüte Sie mir Gott!
Es grüßt Sie recht herzlich
Ihre [Hilde].