[381203–1‑1]
L. am 3. Dezember 1938.
Liebe [Hilde]!
Vielleicht sind Sie aus meinem Brief gar nicht recht klug geworden. Er ist voll dunkler Stimmungen, es sind wenig klare Gedanken darin. Und eines tut mir heute aufrichtig leid, liebe, liebe [Hilde], daß ich den Briefschluß ein [sic] Grad weniger herzlich hielt. Ich schrieb den Brief unter einem bösen Druck, der nun zwei Tage auf mir lastete, seitdem ich Ihren Brief empfing. Heute, am Sonnabendnachmittag ist er von mir gewichen, ich sehe wieder klar und setze mich hin, meine Gedanken niederzuschreiben.
Ich las Ihren Brief wohl achtmal, das Ende noch öfter. Immer wieder legte sich vom Briefende her ein Schatten über den ganzen Brief. In der dunkelsten Stunde trübte böser Zweifel meine Augen. Ich machte mir Vorwürfe, eifersüchtig und eigennützig zu sein. Dann wieder mußte ich zugeben, daß Sie in gutem Glauben gehandelt haben. Und das alles zusammen gab den bösen Druck. Und wenn ich schrieb, ich will Ihnen raten und helfen: Ich wußte mir selbst keinen Rat. Zuletzt war mir nur eines klar: Daß meine Augen sich trübten, muß doch einen Grund haben.
Nun hören Sie bitte ganz ruhig und vernünftig zu:
Ich bin fest überzeugt davon, daß Sie in gutem Glauben handelten, daß Sie mit keinem Atemzug daran dachten, mich zu hintergehen. Sie ließen Ihre Güte sprechen, als Sie ihn mit einer ganz kleinen Hoffnung ziehen ließen.
Sie sahen die Gefahr nicht, Sie übersahen nicht die Tragweite Ihres Handelns.
Das ist Ihre Schuld — wir werden ja auch schuldig wider Willen und ohne unser Wissen: Sie ließen ihn in dem Wahn, daß Sie ganz frei seien. Sie waren damit in einem ganz entscheidenden Punkte nicht aufrichtig zu ihm. Das ist also doch der Hauptvorwurf: Warum erwähnten Sie uns[e]re Freundschaft nicht?
Und ich sehe jetzt ganz klar: Das stimmte mich ernst und traurig: Sie brachten uns[e]re Freundschaft in Gefahr.
Wir wissen es beide: Wünsche und Sehnsucht überwinde[n.]
Dunkel und Ferne, sie gehen durch Fenster und Türen. Wir achten und werten sie viel zu gering, die feinen, unsichtbaren Fäden. Er wird uns[e]re Fäden kreuzen und stören. Das ist die dunkle und geheimnisvolle Seite dieser Gefahr.
Und die andere Seite: Er wird eines Tages Ihr Vertrauen suchen. Dann werden Sie vor der Wahl stehen, mich oder ihn zu hintergehen, mein oder sein Vertrauen zu täuschen.
Sehen Sie die Gefahr?
Ich mag Ihnen keineswegs etwas einreden.
Vielleicht sehe ich falsch. Bitte äußern Sie sich dazu.
Liebe [Hilde]! Ich darf Ihnen diese Gedanken keinen Tag länger vorenthalten und ich beeile mich, diesen Brief zu beenden.
Werden wir darin einig sein, diese Gefahr abzuwenden?
Ich bin so froh, daß ich Ihnen nicht Untreue und mir nicht Eifersucht vorwerfen muß.
Nun ist mir leichter. Ich sehe nicht mehr so trübe dem morgenden Tag entgegen. Meine Gedanken werden bei Ihnen sei [sic]. Ich will Ihnen helfen. Ich werde Rat finden.
Ich drücke Ihre Hand ganz fest in Hoffnung und Vertrauen, liebe [Hilde], und grüße Sie recht herzlich,
Ihr [Roland].