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[OBF-381202-001-01]
Briefkorpus

Lichtenhain am 1.12.1938

Liebe [Hilde]!

14 Tage sind fast darüber vergangen, daß wir uns sahen. Die Eindrücke verblassen. 14 Tage sind noch hin, ehe wir uns wiedersehen. Da treten die Briefe wieder in ihre Rechte. Es ist etwas Eigenes um so einen Brief. Da halte ich die Bogen in Händen, die vorher in Ihrer Hand waren. Da lese ich die Zeichen von Ihrer Hand. Meine Augen gleiten darüber, wie Ihre Augen darübergeglitten sind, prüfend, wie sie sich ausnehmen und ob sie auch ausrichten, was sie sollen. Und nun entziffere ich den Sinn, lese Ihre Gedanken, lese in Ihren Gedanken, und zwischen den Worten und Zeilen schwingen — beinahe das Wichtigste — die mancherlei Empfindungen, die im Leser die nämlichen und entsprechenden Empfindungen wecken.

Heute erhielt ich Ihren langen Brief, 3 Bogen, was hat Sie soviel zu schreiben?

Er weckte seltsame Gedanken. Ich wäre unehrlich, würde ich sie verschweigen.

Ich fürchtete mich früher vor Gewitter. Wenn es arg war, ging ich ins Treppenhaus, setzte mich auf eine Stufe und saß dort still, die Hände gefaltet, ergeben, spannend und gefaßt auf das Äußerste, daß ein Blitz mich erschlüge. Eigentlich ist das keine reine Furcht, denn ich ging weg von den andern und wollte allein sein. Es ist wieder so etwas Dunkles und Ernstes an mir. Und so kann ich heute sagen, ohne daß ich damit renomiere: Es ist mir auf dieser Welt alles wunderbar, daß ich mich über nichts wundere — es ist auf dieser Welt allerlei möglich, und ich bin auf alles gefaßt. Und wenn Sie mich heute verließen oder Sie mir genommen würden — ich wäre darauf gefaßt, bei allem Schmerz. Ich würde es verwinden, ich würde auch allein damit fertig. Ich würde nicht sterben vor Liebeskummer oder mir das Leben nehmen. Irdische Liebe ist nicht das höchste Gut. Ich würde meinen Schmerz in Töne kleiden, vielleicht würde ich überhaupt davon zum Spielmann, wie im Volkslied. Leicht wäre es mir nicht. Ich bin jetzt, da ich diese Gedanken niederschreibe, nicht etwa traurig, sondern still und gefaßt wie auf der Treppe. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen, ich kann Ihnen keinen Vorwurf machen, ich hätte auch kein Recht dazu. Sie haben in gutem Glauben gehandelt; nicht ganz geschickt, wie ich es nach Ihren Zeilen beurteilen kann.

Sie hätten noch besser eine klare Lage schaffen müssen, indem Sie sagten: „Ich freue mich, daß Du mich noch kennst, nicht zu stolz bist, mit mir zu gehen. Du darfst dich mir gern anvertrauen. Aber eine andre Freundschaft bindet mich, ein Vertrag, darüber kann ich dich nicht im Unklaren lassen.”

Nun wäre reine Luft gewesen. Blieb er, dann durften Sie frei und ohne Bedenken ihn täglich sehen und begleiten, dann konnten Sie sich auch die kleinherzigen und für einen Liebhaber nicht stichhaltigen Vorhaltungen vonwegen Alter und Eltern sparen. Warum erwähnten Sie uns[e]re Freundschaft nicht? Sie brauchten das Geheimnis deshalb nicht preiszugeben.

Der Gedanke und die Tatsache, daß ich einen Vertrag geschlossen habe, der mich bindet, gibt mir doch eine gewisse Festigkeit und Zuversicht. In der Politik würde man ihn ein Stillhalteabkommen oder einen Nichtangriffspakt nennen, in dem sich beide Seiten verpflichten, ohne vorherige Kündigung keine neuen Freundschaften einzugehen, die bestehende aber zu halten und zu pflegen auch über Hindernisse hinweg bis zum Ablauf des Vertrags. Dieser Vertrag zwingt und knechtet uns nicht, er läuft ja einmal ab — diese Aussicht bleibt. Er verhindert aber auch, daß wir nach dem ersten Mißverständnis auseinanderlaufen und uns so die Möglichkeit nehmen, einander kennen und schätzen zu lernen. Es ist mit einer guten Freundschaft für das ganze Leben doch wie mit allen anderen Gütern und Kostbarkeiten: „Erwirb es, um es dauernd zu besitzen.”

Ich bin ein schwieriger Mensch, ich mache es Ihnen nicht leicht, und würde nur allzu gut verstehen, wenn Ihnen Zweifel k[ä]men, ich weiß darum.

Ich danke Ihnen, daß Sie mir alles schrieben. Weil Sie nicht volle Klarheit schufen, wird er Ihnen schreiben, und sich gerade in der strengen Rekrutenzeit an sie klammern. Ich bin heute gar nicht eifersüchtig. Sie schreiben: „Ich will ihn nicht so gänzlich hoffnungslos lassen — — —" Das beunruhigt mich ein wenig, es wird Verwicklungen geben.

Liebe [Hilde]! Diese Zeilen schrieb ich gestern, gegen meine Gewohnheit, nach dem Empfang Ihres Briefes erst 24 Stunden verstreichen zu lassen. Aber ich billige sie heute noch, darum lasse ich sie stehen. Ich möchte so gern froh sein mit Ihnen über die Wertschätzung, die Ihnen Ihr Jugendfreund entgegenbrachte. Und nun bin ich doch ein wenig traurig darüber, daß ich mich mit ihm in die Hoffnung teilen soll — Hoffnung teilen soll. Bin ich eifersüchtig? Bin ich eigennützig?

Gewiß bin ich unverständig und werde Sie ängstigen mit meinen Vorhaltungen.

Klagen Sie sich nicht unnötig an. Wenn überhaupt etwas zu verzeihen ist, ich werde Ihnen gern verzeihen, will Ihnen raten und helfen, wenn Sie das nötig haben.

Am Sonntag zu Hause kam manches anders, als ich mir gedacht hatte. Ich freute mich auf ein Dämmstündchen beim Bruder, ich wollte einen großen Brief an einen Onkel verfassen. Der Bruder lag krank an einer eitrigen Mandelentzündung, ich selber war beide Tage so müde und faul und brachte nichts zustande. Die Schwester meiner Schwägerin war da zum Besuch. Ich sah sie wieder seit langer Zeit. Sie haben sie schon auf dem Bilde gesehen. Wir waren zusammen am Sonntagnachmittag ein Stück an der Luft. Sie macht sich noch Hoffnung im Geheimen. Sie ist ein zartes, fein organisiertes, kluges Wesen. Sie würde, so wie sie ist, eine gute Lehrersfrau und sogar mehr, abgeben. Aber ihre Kraft ist schwach, sie braucht viel, viel Liebe und Wärme, die habe ich nicht, ich würde bei ihr nicht warm werden.

Mutter hatte den Adventskranz hergerichtet. In der Dämmerstunde saßen wir zu dritt beim Kerzenschein. Meine Gedanken gingen zu Ihnen. Dann knabberten wir Pfefferkuchen und knackten Nüsse, dabei machten wir Pläne für die Feiertage, berieten, wie wir den Christbaum stellen wollten. Als dann die Rede auf die Verwandschaft kam, da zeigte ich — nicht ohne Herzklopfen — Vater und Mutter die beiden Photographien vor Hoffmanns Haus. Daß zur Kirmes eine dann zu Besuch bei mir weilte, hatte ich schon früher erzählt. Mutter hat lange geguckt. „Wer ist die Dame?" „Ein Mädchen, das ich ich in Oberfrohna kennen lernte." Wider ihre Gewohnheit begleitete mich Mutter allein zur Bahn, vielleicht in der Erwartung, daß ich ihr mehr anvertrauen wolle oder Ihren Besuch für das Fest ankündigen.

An Ihren Kameradschaftsabend habe ich gar nicht mehr gedacht. Kommenden Sonntag bin ich am Vormittag parteidienstlich in W. beschäftigt, am Nachmittag werde ich vielleicht nach Dresden weiterfahren.

Meine Stube ist kahl. H.s sind nicht kirchlich, haben auch sonst nicht so Sinn für Brauch. Da denke ich dankbar an D.s Leute, sie taten darin eher zuviel, es blieb kaum Platz zum Arbeiten. Sie haben gewiß einen Kranz. Bitte, grüßen Sie Ihre Eltern.

Die Hoffnung ist mein grüner Kranz, und ein Licht steckt darauf, [Hilde]!

Seien Sie recht herzlich gegrüßt von

Ihrem [Roland].

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Roland Nordhoff, der vor einem Holzhaus auf einem Stuhl sitzt.

Ba-OBF K01.Ff1_.A14, Roland Nordhoff, 1938, Lichtenhain, Fotograf unbekannt.

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946