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[OBF-381129-002-01]
Briefkorpus

Oberfrohna, am 27. November 1938.
am 29. November 1938.

Lieber [Roland]!

Man möchte meinen, ein Sonntag sei wie der andere, aber dem ist nicht so. Die Sonntage haben ihr eigenes Gesicht wie die Jahreszeiten. Ein Frühlingssonntag ist anders als ein Sonntag im Herbst. Ich denke an den vorigen, den Totensonntag — er läßt sich doch so gar nicht vergleichen mit einem Ostersonntag, voller Auferstehungsfreude.

Und heute feiern wir den ersten Adventssonntag. Es ist uns, als sei die Welt verwandelt, als sei es nicht mehr so dunkel. Als sei wie heute in der Kirche und am Adventskranz, auch in unserm Herzen ein Licht angezündet worden. „Bereitet euch vor, zündet ein Licht in eurem Herzen an und tragt die Hoffnung des Advents in eurer Seele!” Ähnlich so waren die Gedanken, die am heutigen Sonntag uns der Geistliche in seiner Predigt nahelegte.

Man fühlt, daß nur das Gute in uns angeregt zu werden braucht, um [i]mmer wieder das Wunder zu wirken, das uns jedes Jahr um die Weihnachtszeit so ergreift.

Heute klappte unser Lied gut: ‚Lasset uns frohlocken, es nahet der Heiland, den Gott uns verheißen hat!′ Es steht als erstes in den „Festglocken”.

Ich kann gar nicht sagen, worüber ich mich heute früh mehr gefreut habe, über den lieben Brief, oder über die schönen Bilder.— Wohl doch über Ihren Brief. Ich danke Ihnen so sehr lieber [Roland], für alles, was Sie schrieben. Es soll vielleicht nicht sein, daß wir beide einmal untadelig auf einem Bild zu sehen sind. Ein alter Aberglaube sagt, es sei nicht gut, wenn zwei sich photographieren lassen — ihre Herzen könnten sich nicht finden. Grundsätzlich gebe ich nichts auf dergleichen Gerede. Die Alten unsrer Gegend sind voll solcher Geheimnißtuerei, sie wissen sich über so viele Handlungen irgend etwas Bedeutsames zu sagen und fügt es der Zufall, daß ein solches Sprüchlein zutrifft, sind sie doppelt gestärkt in ihrem Glauben. Wollte man an diesem Aberglauben festhalten, könnte man schließlich am Ende gar nichts mehr unternehmen ohne die Befürchtung, daß die Bedeutung eines Spruches an uns offenbar würde.

Alle Bilder sind gut. Mein Bein ist mir ein Dorn im Auge! Einmal wenigstens habe ich Sie mit auf dem Bild — und Ihre Pflegemutter läßt uns nicht aus den Augen. Auf der Hohen Liebe sehe ich Sie ganz allein. Und am besten gefallen mir die beiden Tiere, ob Kuh oder Ochse, ich könnte es nicht sagen. Ich finde die beiden Bilder wunderbar, so naturgetreu. Überhaupt ist gerade dieses Fleckchen, mit seinem schönen Hintergrunde ganz reizend. Sonderbar und eigentümlich — was da blos [sic] alles umherwandelt.

Heute feiern Sie nun zu Hause mit Ihren Lieben Advent und sind auch noch halb krank, Sie Armer. Gehen Sie Ihrer Erkältung tüchtig [zu] Leibe, nicht leichtsinnig sein! Haben Sie eigentlich eine Wärmflasche? Bei uns hier ist es heute so kalt, daß man meint es kommt bald Schnee.

Gestern bin ich 1/2 8 [Uhr] schlafen gegangen. Ich muß beichten, ich war sehr unsolid. Am Sonnabend fand unser Kameradschaftsabend in der Knaumühle statt, von dem ich Ihnen schon erzählte. Kurz vor 1/2 4 [Uhr] war ich erst zu Hause! Die Eltern zankten ein wenig. Der Abend gestaltete sich im großen und ganzen ziemlich nett. Darbietungen von Gefolgschaftsmitgliedern waren nicht zu verzeichnen, die Dekoration und die Musik waren sehr gut. Mehr Beachtenswertes könnte ich Ihnen über diesen Abend eigentlich kaum sagen. Unser Chef befaßte sich sehr kurz und sachlich mit einer Ansprache, wobei er nur die Kameradschaft untereinander, und die Achtung, die vor den Älteren und Vorgesetzten gewahrt werden soll, hervorhob. Er schloß dann noch den Wunsch an, daß der Abend in Eintracht, Harmonie und vor allem solide zu Ende geführt werden möge. Wie weit dies nun beherzigt wurde, weiß ich nicht. Es gefiel allen so sehr und sie wollten nicht nach Hause gehn. Ab 12 Uhr redete ich vom Aufbruch, weil ich doch am Morgen Kirche hatte — keine dachte daran, mitzugehn; allein fürchtete ich mich. Bis dann endlich ein älteres Mädel mitging, von der Nordstraße. Beim Schützenhaus ist es so gruslig seit die Abbruchsarbeiten im Gange sind, und in der Nacht allein beim Friedhof vorbei, das erschien mir auch nicht geheuer.

So gut es unser Chef auch meinte, ich liebe solche Abende nicht; es herrscht so viel Neid und Mißgunst unter den Mädchen. Ich habe so oft an Sie gedacht.

Am Donnerstag, dem 8. Dezember soll der Lichtlabend [sic] der Kantorei im „Rautenkranz” stattfinden. Herr G. gab mir am letzten Male ein Notenblatt. Er will singen und ich soll ihn auf meiner Zither begleiten. Ich faltete das Blatt auseinander und was sah ich? Eine liebe, vertraute Handschrift. Sie haben die beiden Lieder geschrieben, von Anton Günther: „Grüß dich Gott mei Arzgebirch” und „Feierohmd”. Wie eigenartig mich das berührte. Der Vater meines Chefs, welcher Zitherlehrer war, wird mir die Begleitung dazu schreiben.

Viel Seltsames begegnet uns im Leben. Es kommt nicht immer auf uns selbst an, wie wir uns dem gegenüber verhalten. Es können uns auch Umstände zwingen, anders zu handeln, als es unser Ehrlichkeitsgefühl, unser Inneres uns sagt. Sie schrieben mir Ihre kleinen Erlebnisse im Zuge, die Sie auf der Rückfahrt von Großröhrsdorf hatten. Es gibt keinen Menschen, der niemals schon einer Versuchung gegenübergestanden hätte. Ich achte Ihre Ehrlichkeit. Man kann im Grunde niemanden verurteilen, wenn er Schönheitssinn besitzt — ob Mann oder Frau, das ist ganz gleich. Unsre Zeit, die so frei und lose ist, trägt dazu bei Verwirrung und Unheil anzurichten — ein Teil hat auch die Mode Schuld daran.

Das Schöne ist ja da, um bewundert zu werden, um Freude und Gefallen auszulösen. Und es wäre doch töricht, sollte man absichtlich achtlos, oder gar aus Neid — jetzt von mir aus gesehen — am Schönen vorbeiseh[en]. Zuletzt kommen wir immer wieder darauf zurück.: Birgt die schöne Schale auch einen guten Kern?

Ich erzählte Ihnen von Hans H., daß ich ihn kenne von Kind an. Ja, ich unterhielt mich gut mit ihm am Sonntag.

Was veranlaßt ihn, fast täglich meine Begegnung herbeizuführen?

Geht das allen jungen Mädels so? Fremde Herren hält man sich fern, indem man kurz grüßend vorüber geht. Aber das kann ich ja bei ihm nicht. Er richtet es immer so ein, daß ich ihn nach Geschäftsschluß treffe, entwe[der] auf dem Heimweg, oder bei Besorgungen. Wenn er nur ein paar Minuten mit mir sprechen kann, sobald ich ihn bitte zu gehen, tut er es.

Ich machte ihn auf das Geschwätz der Leute aufmerksam, auf die Meinung unserer Eltern — es würde ja niemand an die Harmlosigkeit dieser Begegnungen glauben, und ich sagte ihm auch ganz offen, daß es zwecklos sei, sich irgend einer Hoffnung hinzugeben; in Anbetracht seiner Jugend und seiner militärischen Laufbahn, die jetzt vor ihm liegt.

Er war vernünftig und sah dies ein, bat mich aber so lieb, daß ich ihm doch nicht meine Freundschaft entziehen möge, solange er noch da sei. Kein anderes Mädel würde ihm so zuhören können und ihm in seinen Angelegenheiten Verständnis und einen guten Rat entgegenbringen, als ich. Ob es ihm wahrhaftig so ernst damit ist, weiß ich nicht.

Doch verlachen konnte ich ihn nicht. Ich erklärte mich bereit, ihm Kameradin zu sein, sollte er mich einmal brauchen.

Obgleich ich schon heute mit Bestimmtheit zu sagen vermag, daß diese Jugendfreundin gar bald vergessen ist, wenn er die schöne, weite Welt kennenlernt, wenn er mit Erfolg seine ruhmreiche Laufbahn beschreitet. [Ic]h will ihn nicht so gänzlich hoffnungslos lassen bei seinem Eintritt in die Kaserne, die er heute zum ersten Male betritt.

Ich wünsche mir, daß ihn das Neue ganz in Anspruch nimmt und vollkommen ausfüllt — daß ich somit in den Hintergrund trete.

Ich mag keine Halbheiten. Ich habe ihn wohl gern in seinem Wesen — aber ihn lieb haben, nein das könnte ich nicht.

Am Freitag wartete er auf mich, um mir Lebewohl zu sagen. Seitdem hat sich nichts ereignet.

[Ic]h bin so froh, daß ich mich Ihnen anvertrauen kann, lieber [Roland]. Werden Sie mein Handeln billigen?

Seit Sonntag schreibe ich an diesem Brief, heute am Dienstag will ich aber schließen, Sie warten vielleicht schon ungeduldig?

Die Eltern lassen grüßen. Gebe Gott, daß Sie meine Zeilen bei voller Gesundheit erreichen.

Ich drücke Ihre Hand ganz fest, lieber [Roland] und verbleibe mit recht herzlichen Grüßen

Ihre [Hilde].

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Autor Hilde Nordhoff
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Hilde Nordhoff

Foto von Hilde Nordhoff. Nahaufnahme, Person im Sommerkleid, im Hintergrund Bäume.
Ba-OBF K01.Ff2_.A12. Hilde Nordhoff, 1940, Oberfrohna, Fotograf unbekannt, Ausschnitt aus Fotoalbum.

Hilde Nordhoff wurde 1920 als Hilde Laube in eine Arbeiterfamilie in Oberfrohna, eine Kleinstadt in Sachsen, hineingeboren. Sie arbeitete ein Jahr lang als Hausangestellte, dann in einem Trikotagenwerk.

Sie kannte Roland Nordhoff aus der Kantorei in Oberfrohna und trat sogar der evangelischen

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946