[381101–1‑1]
L. am 1. November 1938.
Liebe [Hilde]!
Bis zum Sonntag kann ich Sie nicht warten lassen. Bei meiner Rückkehr schienen die Sterne, nach denen Sie auf dem Bahnhof vergebens ausschauten, und heute ist heller Sonnenschein. Möchten es gute Zeichen sein! Die dunkelsten Schatten kommen da nicht auf. ½ 12 bin ich zu Bett, zu der Zeit, da ich auch Sie zu Hause wußte. Ich habe gebetet, für Sie um Kraft, für mich um Geduld und Zuversicht. Darauf habe ich bis früh 5 fest durchgeschlaffen. Mir kommen die Tränen, wenn ich daran denke, daß ich Sie allein so traurig in die dunkle Nacht mußte zielen lassen, Sie Ärmste, Gute; daß ich Ihren so schwer verdienten Urlaub verbittern mußte, Sie Armes, Gehetztes. Ich war so schwach und mutlos. So schnell konnte ich vergessen, daß wir uns doch schon so gut verstanden haben!
Wie konnte das so kommen?
Wir sind sonst so froh miteinander gewesen.
![Grund für die Verstimmung – der unangemeldete Besuch der Verwandtschaft; von links: Fr. Hofmann (Hausbesitzer), Rolands Oncle, Hilde, Rolands Tante, Roland; L., 31 [sic: 30].10.1938](https://info.umkc.edu/dfam/wp-content/uploads/2013/10/381101-1-1ia-300x300.jpg)
Zu meinem eigenen leisen Zweifel kam, daß ich 3 Tage schlecht geschlafen habe, das böse Buch, der Besuch: die Tante ‚Schwester’ ist so lieb zu mir und besorgt um mein Schicksal, und als sie, auf uns[e]re Verbindung anspielend, beim Abschied sagte: „Alles Gute”, da erhob sich diese Sorge dunkel und drohend und übermannte mich.
Und nun möchte ich Sie trösten und dazu gar keine anderen Worte brauchen, als die ich schon gestern fand. Ich will Ihnen noch lange helfen. Ich will lange Geduld haben. Sie sind ja noch so jung, Sie wachsen noch, Sie haben noch viel Zeit. Sie haben viel Kraft. Sie hat sich schon bewährt in Ihrer Treue, ich habe sie gestern gespürt: Sie behielten die Fassung; aus Ihren Augen leuchtete am ersten [sic] wieder die Zuversicht; sie hatten auch noch Kraft übrig, mich zu trösten. Wir kennen uns ja noch nicht lange. Es verbinden uns noch zu wenig gemeinsame Erlebnisse. Uns[e]re Welten sind ja so verschieden! Und ich möchte Sie Ihrer Kraft mit Ihren eigenen Worten gewiß machen: „Was nützt dem Menschen eine Hoffnung, wenn sie im Geheimen nicht doch eine Gewißheit wäre?” Bitte, bitte lesen Sie in den Briefen alle Stellen, die Ihnen Hoffnung machen können. Bitte verzeihen Sie [mir] mein Schwanken und Zweifeln und schenken Sie mir weiterhin Ihr volles Vertrauen, entziehen Sie mir nicht Ihre liebe Hand! Bitte schreiben Sie mir ein paar Zeilen, die auch meine le[t]zte Sorge und Traurigkeit wegwischen können.
In alter Freundschaft drücke ich Ihre Hand ganz fest und dankbar und grüße Sie recht herzlich. Gott mit Ihnen!
Ihr [Roland].