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[OBF-381007-001-01]
Briefkorpus

Bischofswerda am 7. Okt. 1938

Liebes Fräulein [Laube]!

Wenn ich am kommenden Sonntag meine ‚Diensträume’ wieder betrete, wird die Erinnerung an Ihren Besuch lebhaft werden. Sie kennen nun meine Behausung, sind meine Wege gegangen, und mir wird es manchmal vorkommen, als seien Sie mit anwesend und schritten neben mir, ich werde mich manchmal geheim beobachtet fühlen. Müde Beine haben Ihnen zwei Tage lang die Erinnerung gewaltsam wachgehalten. Das Wandern und Laufen ist meine Passion. Ich brauche dazu gar nicht immer ein Ziel, auf das ich besonders spitze; oft gehe ich hinaus nur, um mich auszulaufen, um mein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen.

Da Sie alltags soviel in Räumen sitzen, kann Ihnen die Bewegung an frischer Luft nur gut sein. Unsre Begegnung war nicht ohne Reiz. Sie war so geheim und doch nichts Verbotenes. Sie war abenteuerlich und doch nicht planlos. Sie war für Zuschauer und Aufpasser, wenn es solche gegeben hätte, voll Freiheit und über [die] gewohnten Grenzen; aber wir beide steckten die Grenzen der Freiheit selbst und achteten sie. Ihre Mutter selbst holte Sie ab von diesem abenteuerlichen Rendezvous (Stelldichein).

Ich hätte Sie beide belauschen mögen auf dem Wege vom Bahnhof. Wie ich mir das ausmale: [Hilde] am Arm der Mutter, leichten Schrittes eine halbe Länge voraus, mit vielen raschen Worten auf sie einredend, um sie froh zu stimmen und ihre Sorgen zu zerstreuen. Die Mutter aber, besorgt, besonnen, unbestechlich, achtet auf jeden Tonfall, jede Schwebung der Stimme, um herauszuhören, ob ihre Tochter auch brav war, ob es keinen Mißklang gegeben hat, ob sie nicht etwas verbergen will. Dem scharfen Ohr der Mutter würde es nicht entgehen. Ich bin so froh, daß wir das Einverständnis Ihrer Eltern haben. Die Weitherzigkeit rechne ich ihnen hoch an, sie ist mir Ausdruck größten Vertrauens, das zu rechtfer[t]igen mir höchste Verpflichtung ist.

Nachdem Sie mich böslich verlassen hatten, habe ich mich zu der Menschenmenge gesellt, die um einen Lautsprecher versammelt stand. Zu Hause war man auch noch munter, sodaß ich nicht erst lange Lärm zu schlagen brauchte. Die Erinnerung an unsre Begegnung stand unter dem Düster der folgenden Tage. Jeden Abend hörten wir Nachrichten, deutsche und ausländische. In unserm Städtchen war man ziemlich aufgeregt. In der Nacht zum Mittwoch habe ich nicht geschlafen. Am Abend meldete der Rundfunk die Mobilisierung der englischen Flotte und der Armeen Belgiens und Hollands. Es stand auf des Messers Schneide. Am Mittwoch haben wir den Luftschutzkeller gebrauchsfertig gemacht. Unsre Wirtsleute, ängstlicher als wir, packten die wichtigsten Sachen. Überall Vorbereitungen für den Ernstfall. Da kam am Mittwochabend die Nachricht vom Zusammentreffen der Staatsmänner. Wir haben uns gefreut wie die Kinder. In kurzer Zeit war eine Halbpfundbonboniere von Mutters Geburtstag gelehrt. Das war uns klar: Diese 4 Männer konnten ohne eine Lösung nicht auseinandergehen. Ich erwog allen Ernstes, nach München zu fahren, um Zeuge der historischen Auffahrt zu sein. Am Donner[sta]g besuchte ich Bruder Soldat in Löbau, die lagen dort feldmarschmäßig ausgerüstet in Bereitschaft. Heute schrieb er uns aus Kratzau in Böhmen, er ist also mit unter den einmarschierenden Truppen.

So vergingen 8 Tage unter mancherlei Aufregung im Handumdrehen, und zu richtigem Ausruhen blieben nur noch 8 Tage.

Ich denke Ihrer oft. Nach der Uhr genau frühmorgens um 6. Dann weiß ich, daß Ihre Mutter Sie weckt aus sanftem Schlummer, daß Sie [s]ich schnell noch einmal aufs andre Ohr legen und den Kopf in die Kissen drücken. Daß Sie so Tag für Tag an der Strippe einer eintönigen, unpersönlichen Arbeit liegen, tut mir recht leid.

Diese Woche hat mich die Ahnenforschung in Atem gehalten. Die hat sonst unser Onkel Pfarrer in Breitenborn in Händen. Weil er aber so weit von der Heimat unsrer Ahnen entfernt wohnt, hat er mir einige Aufträge gegeben. Meinen ganzen Scharfsinn und Eifer habe ich aufgeboten, um die Geburtsurkunde unsres Ururgroßvaters Gottlob [Nordhoff], seines Zeichens ein Schneider, zu erlangen, bisher vergeblich. Wir besitzen seine Sterbeurkunde, seine Trauurkunde, sein Erdendasein ist verbürgt in den Taufurkunden seiner 8 Kinder, die Urkunden enthalten einen Hinweis auf seinen Vater; aber er selbst ist nicht und nirgends geboren. 2 Vormittage war ich mit dem Rade über Land, um selbst in den K[ir]chenbüchern nachzuschlagen, heute bin ich mit der Bahn nach Bautzen gefahren. Es hat einen eigenen Reiz, den Vätern nachzuspüren. Fragen auch Sie Ihre Großeltern noch ein bißchen aus, solange sie noch leben, machen Sie sich auch ein paar Notizen. Es könnte der Fall eintreten, daß diese Angaben gebraucht werden. Dann müssen sie freilich alle urkundlich be[i]legt sein, aber die mündlichen Angaben der Großeltern können manch nützlichen Hinweis geben, in welcher Richtung man forschen muß.

Gestern nachmittag traf ich mich mit einem befreundeten Kollegen zu einem Ausflug nach dem Waltenberg. Großpostwitz bei Bautzen, das müssen Sie wissen, ist der Ort meiner ersten Anstellung, 6 Jahre habe ich dort ‚gewirkt′. Dort befreundete ich mich mit diesem Kollegen. Sie brauchen nicht eifersüchtig zu tun, er ist [je]tzt ungefährt 68, sieht mir ein bißchen ähnlich, man hat uns schon manchmal für Vater und Sohn gehalten. „Fährst du wieder zu deinem väterlichen Freund?” so foppte mich die Großmutter manchmal. Oberlehrer K., so heißt er, ist geistig sehr rege und noch frisch, sehr gut zu Fuß, 1932 sind wir zusammen in den Alpen gereist. Fast jede Ferien muß ich ihn [e]inmal besuchen, ich bleibe dann meist 2 Tage. Auf unseren Streifzügen durch die Lausitz unterhalten wir uns von Politik, Kunst, Wissenschaft (Oberlehrer K. ist sehr belesen in Geschichte und Religionsgeschichte), von Büchern, die wir gelesen haben, von Konzerten, die wir besuchten, von sonstigen Erlebnissen. Ich danke ihm manche Anregung. (Sein Sohn ist Bürgermeister von Burgstädt.) Wenn wir beide so durch die Gegend ziehen, oft in Gespräche vertieft und im Eifer dabei vielleicht manchmal gestikulierend, bleiben die Leute manchmal stehen und sehen uns erstaunt nach. Es ist ein richtiges Männerkränzl zu zweien. Von Zeit zu Zeit brauche und liebe ich das. Sie werden jetzt vielleicht verzagt denken: Diesen Freund kann ich ihm freilich nicht ersetzen. Sollen Sie auch nicht. Verstandeshärte und Verstandeskniffelei ist Manneswesen, die suche ich beim Weibe nicht, sie paßt auch nicht zu ihm.

Wie habe ich mich trotz dieser Freundschaft gesehnt nach dem Umgang mit einem weiblichen Wesen! Eine zarte Hand, ein liebender Blick, ein herzliches Wort, wie habe ich sie entbehrt, so lange! „Haben Sie in Ihrem Leben schon einmal einen Menschen so recht von Herzen liebgehabt?” Mit dieser Frage und diesem Geständnis haben Sie an einen tiefen, himmlischen Schmerz gerührt. Sie war der Schlüssel zu meinem Herzen und meinem Vertrauen. Ich habe weinen müssen damals. Bis in mein 6. Lebensjahr, das erinnere ich mich bestimmt, aber gewiß noch weiter zurück, reicht dieser [Sc]hmerz. Damals erlebte ich eine große Enttäuschung — der Vater mag sich unvorsichtig benommen haben —: Die Mutter teilt ihre Liebe, sie schenkt sie mir nicht ganz. Von da an hat ist [sic] ein Mißtrauen zwischen mich und Vater und Mutter getreten, ich glaubte nicht mehr an ihre Liebe und mied alle Zärtlichkeiten und stand so allein. Dieses Mißtrauen machte es mir so schwer, mich einem Mädchen zu nähern. Und es ist wohl Fügung, daß ich auf ungewöhnlichem Wege die Freundschaft eines Mädchens erlangte. Es wissen nur zwei darum auf der ganzen Welt, ich aber will dieses Geheimnis hüten als einen köstlichen Schatz.

Ich will Sie nicht verwöhnen mit langen Briefen und setze jetzt einen Punkt. Haben Sie Ihrer Frau Mutter meinen Dank und Lob gezollt für den guten Kirmeskuchen? Bitte grüßen Sie Ihre Eltern.

Gott erhalte Sie froh und gesund.

Seien Sie recht herzlich gegrüßt

von Ihrem [Roland Nordhoff].

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Drei Personen stehen auf einem Bürgersteig in einer Kleinstadt. Eine davon ist Hilde Nordhoff.

Ba-OBF K01.Ff1_.A1, Hilde Nordhoff mit zwei unbekannten Personen, 1939, womöglich in Oberfrohna, Fotograf unbekannt.

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946