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[OBF-380911-001-01]
Briefkorpus

14.9.38

11.9.1938

Liebes Fräulein [Laube]!

Diesen Brief habe ich schon am verflossenen Sonntag begonnen, richtiger, diesen Brief beginne ich schon heute Sonntag. Gestern wußte ich nichts mehr zu schreiben, heute fällt mir noch allerhand ein. Ich hatte Freitag und Sonnabend einen kleinen Verdruß in der Schule und war mit meinen Gedanken nicht ganz beisammen. Es galt, eine erboßte Mutter zur Raison zu bringen. Ich erzähle Ihnen das und zeige Ihnen die Schriftstücke, wenn Sie das interessiert.

Heute früh, ich lag noch im Bett, besuchte mich eine Hummel, eine zierliche Hummel mit rostbraunem Pelz. Da bin ich nun nicht etwa aus dem Bett gesprungen und habe einen wilden Indianertanz aufgeführt. Die Hummel setzte sich auf meine Hand, ließ sich dann fallen in den Hemdärmel und hat dort mäuschenstill gelegen, sie hat sich wärmen und ausruhen wollen. — Manchmal läuft ein Tier beharrlich über den Schreibebrief, manc[h]mal wird man einen Käfer nicht los — ich denke dann, die haben einen Auftrag, soll[e]n etwas ausrichten. Aber nun schicken Sie mir nicht etwa einen ganzen Wespenschwarm, ich möchte sonst diese Boten weniger liebevoll empfangen. Lernen Sie aber stillhalten, wenn nur eine Wespe kommt!

Beim letzten Zusammensein haben Sie scherzhafterweise an meine Berufsehre getastet, vonwegen der Ferien. Vielleicht war doch ein Schuß Ernst in diesem Scherz. Es hat mich ein klein bissel getroffen. Nun ich mich von dem Schlag erholt habe, gebe ich ihn zurück (ich muß an unsre Schneeballschlacht denken, die war zuletzt wirklich heftig und hitzig.).

Es ist für den Außenstehenden schwer, die Notwendigkeit der Ferien auch für den Lehrer einzusehen. Ich führe Ihnen im Folgenden die Überlegungen auf, die mir die wichtigsten scheinen.

1) Wer wochenlang immer nur andere anregt, braucht dann selber wieder einmal eine Anregung.

2) Das Unterrichten ist nicht nur eine Verstandesarbeit, es ist vor allem eine Willensanspannung. Wenn ich Ihnen etwas klarmachen kann, so ist das leicht, weil Sie bereit sind, es aufzunehmen. Ich will es einmal kraß ausdrücken: Die Mehrzahl der Kinder will nichts lernen, das Lernen strengt an und tut weh. Der Lehrer kann ihnen nicht nur erklären, sondern er muß durch unsichtbare Ströme ihnen auch noch die Bereitschaft, den Willen zu lernen, aufzwingen, das ist eine ganz eigenartige geistige Anstrengung, die der eines Magnetiseurs nicht unähnlich ist. Die Kinder zehren an den Nerven der Lehrers, zumal die widerspenstigen und charakterlich minderwertigen und, nicht zu vergessen, die unsympathischen. In meiner Klasse sitzt beispielsweise ein Junge, der nimmt nichts ernst, keinen Unterricht, keinen T[a]del, keine Züchtigung, er ist mir unsympathisch, der Junge strengt mich doppelt und vielfach an. Ich habe ihn jetzt einmal in aller Ruhe gefragt: „Du bist ein lächerlicher Mensch — ich bin ein ernster Mensch, daran können wir beide nichts ändern, aber bitte, richte dich ein wenig nach mir, sonst geraten wir aneinander." Es ist zwischen Lehrer und Kindern ein dauerndes Reiben, und je frischer der Lehrer ist, desto stärker ist die Reibung. Nach 6 Wochen aber sind viel Ecken und Kanten abgerieben, denken Sie an die Streichholzschachtel, dann sind Ferien not, daß frißt, es ist nötig, daß Lehrer und Kinder sich eine Zeitlang nicht sehen, damit neue Reibflächen sich bilden, und damit die Nerven erholt werden.

Ich merke, Sie lesen schon mit Ungeduld und wollen Abbitte tun. Das sollen Sie nicht. Wie könnten Sie ernstlich gegen die Ferien Sein?! [A]ber wenn unter Bekannten darüber einmal ernsthaft — nur dann — darüber diskutiert wird und Sie sind Zeuge, dann dürfen Sie eine Lanze für unseren Brief brechen und sagen: Ich kenne einen Lehrer, der äußerte sich darüber einmal folgendermaßen — — —.

Dunkle Wolken ziehen auf am Himmel der Weltgeschichte. Die Lage verschärft sich täglich, und es steht auf des Messers Schneide. Die Tschechen sind ein kleiner Gegner; aber wie werden sich die Großmächte verhalten?

Trotzdem lasse ich finsteren Gedanken nicht die Oberhand. Ich habe noch Hoffnung, daß es ohne Krieg abgeht, und sonst — es kommt, wie Gott es will.

Heute Mittwoch kam Ihr lieber Brief. Nach dem Essen bin ich in den Wald gegegangen, um mir zum Abendbrot ein paar Pilze zu holen, ich esse sie gern. 1/2 4 war ich schon zurück, mein Säcklein war gefüllt, ich hatte Glück.

Daß Sie Ihre Freundin einweihten, habe ich Ihnen selbst angeboten. Es ist wohl ein echt weiblicher Zug, das Bedürfnis sich mitzuteilen und anzulehnen, ich respektiere und schätze ihn. Ihr Bild, das Sie Kopf an Kopf mit Ihrer Freundin zeigt, ist dafür beredter Ausdruck. Ich vertraue Ihrem Empfinden dafür, was Sie der Freundin mitteilen und was Sie ihr verschweigen.

Ich hatte ihr gegenüber manchmal das Empfinden: Mit der wüßte ich garnichts anzufan[gen.] Der seltsam kraftlose Händedruck; fast immer sah man sie heiter, lachend, ausgelassen, woher, fragte ich mich manchmal. Ich hielt sie für flach und willenlos, ihr blasses Gesicht und das weiße Blond verstärkten diesen Eindruck. Ich weiß, leicht kann man sich täuschen, und keineswegs sollen diese Zeilen Ihre Freundschaft stören. Ich glaube auch, der Freundschaft zwischen Mädchen wird man mit diesen Maßstäben nicht gerecht, sie beruht auf anderen.

[D]ieser Brief wird schon vor Sonnabend fertig. Aber früher kann ich ihn nicht abschicken, weil ich mitschreiben will, welches Theater wir besuchen. Der Spielplan erscheint in der Sonnabendzeitung.

Oper: Licia die Lammermoor von Donizetti bei Reclam

In Ihrer Antwort müssen Sie nun schreiben „Ich komme" (versteht sich mit allen Vorbehalten, die Gesundheit oder sonst höhere Gewalt betreffend), dann werde ich alle Vorbereitungen treffen.

Ich gebe mir alle Mühe, meine Freude zu dämpfen.

Am Sonntag habe ich den Weg inspiziert, den ich mit Ihnen zu gehen hoffe. Das Programm für Ihren Aufenthalt ist fertig, reichhaltig genug. Vergessen Sie das Lied nicht.

Zum Ausgang am Sonnabend ein paar recht vergnügte Stunden, gute Heimfahrt und gutes Bekommen. Ich werde den Sonntag zu Hause verleben. Wir wollen den Geburtstag der Eltern feiern, Mutter wird am 15. 49, Vater am 17. 58 Jahre.

Lassen Sie sich von meiner Ruhe, Besonne[n]heit und Zuversicht in der Beurteilung der politischen Verhältnisse anstecken. Wo viel Menschen beisammen sind, entstehen leicht Gerüchte, und Oberfrohna steht anderen Orten darin nicht nach. Hier, 5 km von der Grenze entfernt, herrscht größte Ruhe.

Bleiben Sie gesund und wohlauf

und seien Sie mit Ihren Eltern

recht herzlich gegrüßt

von Ihrem [Roland Nordhoff]

Nachtrag:

Die Oper kenne ich nicht.

Im Schauspiel ist nichts Rechtes.

Also nehmen wir diesmal damit vorlieb.

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Autor Roland Nordhoff
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Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946