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[OBF-380910-001-01]
Briefkorpus

9.9.38

Lichtenhain am 10. Sept. 1938

Liebes Fräulein [Laube]!

Da es nun herbstet, denke ich mit einiger Sehnsucht an Oberfrohna zurück. Ich liebte es, von der Kaufunger oder Meinsdorfer Höfe oder von der Elzing über das weite, dämmernde Land zu sehen, wie es im Dunst und im Rauch der Kartoffelfeuer am Horizont mit dem Himmel in eins verschmolz in ein uferloses, schwermütiges Grau, vor dem sich einzelne Pappeln schwarz und düster abzeichneten. Beim Schauen in dieses Grau konnte ich still und wunschlos werden und mich verlieren. Wie eigenartig, wenn ich mich dann, heimkehrend, wiederfand in dem frohen Menschengewimmel der [Unklar]straße, ganz einsam mitten in der Menge. Man kann so einsam sein in der großen Stadt, mehr als auf dem Dorf. Uferlos und so unendlich weit und fein wie Herbstdämmerung sind unsre Wünsche und Sehnsüchte. Und wenn sie alle erfüllt würden — es bliebe ein Rest — unerfüllbar. Und es bleibt zwischen Menschen ein Rest des Nichtverstehens, sie mö[ge]n sich noch so gut verstehen, ganz am Ende steht jeder allein. Das ist eine Tatsache, der man ins Auge sehen muß. Ich möchte mit Ihnen in diese Dämmerung schauen, wortlos stehen und schauen und mich verlieren und es empfinden, zwei Seelen verlieren sich jetzt in der uferlosen Ferne — und dann Ihre Hand fassen, um es froh zu fühlen, daß ich noch dabin, nicht ganz allein. Es ist der Herbst eine ernste Zeit, ich liebe ihn.

Dunkel besinne ich mich auf den gemeinsamen Heimweg aus der Kirche. Das wäre zum Kirchweihfest gewesen? Und just ein Jahr darauf hätten wir unser Wiedersehen verabredet? Werden Sie gut abkommen können? Ich überlege, wo ich damals gewesen bin.

Ist die Geschichte Ihrer Freundin — es ist durchaus keine Kränzelgeschichte — nicht erschütternd, die Sie da in so unmittelbarer Nähe miterleben? [Er] pflückte die Blume und warf sie achtlos und überdrüssig auf den harten Weg: Das ist das Gleichnis zu dieser Geschichte.

Auf einem Sonntagsspaziergang vor vielen Jahren brach der Bruder die Krone einer jungen Birke ab, um eine Peitsche zu haben. Diese Rohheit hat ihm die Mutter so ins Gewissen gebrannt, daß wir heute noch daran denken, wenn wir dort vorbeigehen. So muß es sein.

[O]b denn dieser junge Mann nicht auch eine Mutter hat, deren Bild ihn schrecken und ihn an seine Pflicht erinnern müßte, die Ehre dieses Mädchens zu schützen? Wer Weibes Ehre so gering achtet, ist ein miserabler Kerl. Das möchte man dem Mädchen zum Trost sagen.

Einem den Garten bereiten und bewahren, ist das nicht der hohe Sinn der Mädchenjugend? Wieviel wissen das? Der zweite findet ihn schon betreten.

Da sind Sie nun von den drei Kränzelschwestern die eine feste. Ich bin darüber so froh und dankbar.

Wenn Sie daran gedacht haben, für das Ka[n]toreivergnügen einen Herrn einzuladen, tun Sie es, ich vertraue Ihnen.

Sonntag über bleibe ich diesmal in Lichtenhain. Ich werde keine Langeweile haben. Vor Michaelis häuft sich die Arbeit, zumal seit wir da wieder Zensuren geben müssen. Dazu kommt heute in Vertretung ein Hochzeitsständchen. Morgen soll ich die Orgel schlagen (schlagen war früher dafür ein allgemein üblicher Ausdruck). Wen[n] ich den Brief beendet habe, muß ich gleich noch ein wenig üben. Die Lichtenhainer sind nicht verwöhnt und für sie reicht meine Fertigkeit schon hin, nur möchte mein Spiel auch vor meiner eigenen Kritik einigermaßen bestehen. Am Nachmittag werde ich mich ein wenig auslaufen, meine Gedanken werden bei Ihnen sein.

Heute meldet die Zeitung, daß die Zahl der Arbeitsmaiden verdoppelt werden soll. Sehen Sie nur zu, daß Sie daran vorbeikommen.

[D]er Mond ist rund und leuchtet zudringlich in jede geheime Kammer. Er nötigt mich, meine Vorhänge zu gebrauchen. Ich bin empfindlich gegen den Mond. Ganz früher hat mich Mutter einmal ertappt, wie ich schlafwandelnd am Fenster stehend dem Burschen ganz ergeben zugeblinzelt habe.

Ich weiß heute nichts Schreibenswertes weiter. Bleiben Sie gesund, verleben Sie froh Ihren Sonntag und seien Sie recht herzlich gegrüßt

von Ihrem [Roland Nordhoff].

Herzliche Grüße auch Ihren Eltern.

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Autor Roland Nordhoff
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946