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[OBF-400129-001-01]
Briefkorpus

Schmilka am 29. Januar 1940.

Herzallerliebste, meine liebe, liebe [Hilde]!

Bis gegen 9 Uhr habe ich gestern im Bett gelegen. Ich kam darauf zu sinnen, welchen Weg mein Leben bisher genommen hat. Dieser Weg ist so mannigfach verschlungen, hat soviel Seitenäste und Stationen, daß ich erstaune, und wenn ich mir die Bilder vergegenwärtige, so kommen mir manche eben nur noch wie Bilder vor, so fern und unwirklich. Und auf diesen Bildern sehe ich mich selbst, wie ich gewachsen bin. Ein Reisender kommt gewiß viel mehr herum und weiter hinaus. Aber ich war auf meinen Reisen doch überall gezwungen, länger Station zu machen, Menschen kennen zu lernen und meine Kraft anzusetzen. Jede neue Station mußte ich für einen neuen Mittelpunkt ansehen.

Wenn ich an die vielen Sonntagsfahrten denke! Aber wichtiger waren die Menschen, mit denen ich in Berührung kam. Neue Kinder, Kollegen, Wirtsleute, die Menschen in den Vereinen. Einigemal brachen die Brücken von einem Ort zum andern gar nicht so schnell ab. Als ich in Lichtenberg bei Zittau war, nahm ich noch an einigen Fahrten des Bautzner Domchores teil. Von einer dieser Fahrten kehrte ich morgens um ½ 4 in mein entlegenes Nest zurück. Die Spur, die man so nun äußerlich in Wirklichkeit gezogen hat,— ach, sie ist ja vielenorts sicher längst verweht und meistenorts auch in den Menschen verblaßt — die ist bewahrt in unserem Gedächtnis, unserem Bewußtsein, ihr entspricht die Spur unsrer Erinnerung. Auch diese Spur wird schwächer und lückenhaft. Dafür erkennt man nun aber deutlicher die tiefen Stellen dieser Spur: wo das Vorwärtskommen Mühe machte, wo man hart angefaßt wurde oder selbst anfaßte, wo man mit einem Menschen in nähere Berührung kamen. Am deutlichsten aber die Stellen, wo das Herz rascher schlug in Sehnsucht und Hoffnung. Ich sah überall auch die Menschen sich freuen, die Männer meist beim Bier, die Frauen bei derben Scherzen. Es war ganze selten echte Freude, die ist ja so selten. Gute Freude in Geselligkeit fand ich noch nirgends, außer im Familienkreis. Die Liebe und Wärme des Elternhauses wurde mir nirgends ersetzt. Und das war mir schon zeitig klar, daß die schönste Freude bei einem Menschenkinde liegt, dem man sich ganz anvertrauen kann, daß sie in dem Glücke reiner, inniger Liebe beschlossen liegt. Und nach diesem Glücke habe ich au[s]geschaut immer und überall. Dieses Glück in unsrer Zeit zu finden, ist so schwer. Ich hatte ein gar scharfes Auge und führte ein gar strengen Maßstab mit mir. Vielliebchen und Kurzliebchen hielten ihm nicht stand. Aber gerade Treue und Beständigkeit zu prüfen ist so schwer. Und so blieb ich allein, Du! An den vielen freien Tagen, auf den vielen Wanderwegen! War nur Zuschauer des Glückes der anderen, selten, daß ich es ihnen neidete. Und dann war ich doch eines Tages verliebt, richtig verliebt, so wie ich es mir erhoffte. Ich durfte hoffen, und es war mir ganz leicht gemacht. Ich gab meine Neigung zu erkennen. Warum sprach ich nicht das erlösende Wort? Gewiß, ich wollte auch ihr der Einzige, der Liebste sein. Ich gab ihr Zeichen genug, daß sie erkennen mußte, sie sei mir die Eine und Einzige. Dann ging ich weg, nach Dresden. Und dann bot sich ein Anlaß, ihr zu schreiben, so, daß sie Antwort geben mußte — die Antwort blieb aus. Die Prüfung war nicht bestanden, ich war ihr nicht der Liebste, nicht der Einzige. Das beste an der Liebe ist die Treue, und die ist dann a[m] sichersten verbürgt, wenn wir den Menschen finden, der uns der einzig passende erscheint.

Und wohin kam ich nun auf meinem Gedankensonntagmorgensspaziergang? Du!

Je ruheloser mein Leben wurde, desto unsich[e]rer wurde nun meine Spur. Das war nicht nach meinem Sinn, daß erschwerte mein Suchen bedeutend.

Herzallerliebste! Hättest Du mich nicht bei der Hand genommen und es mir gezeigt, das Glück, ich hätte es nicht gesehen. Als Du mir schriebst, war das schwerste Stück der Prüfung schon bestanden. Du warst treu, Herzliebes, treu über viele Hindernisse und Enttäuschungen, treu aus dem Empfinden, das ich Dir der Liebste bin. Das werde ich Dir nie vergessen und immer danken. Nun wußte ich, daß mir ein Herz schlägt in Liebe und Treue. Es erscheint mir noch heute wie ein Wunder. Ich kannte Dich viel zu wenig. Ich ahnte kaum, daß Du Dich mit mir beschäftigtest und hätte nicht erwartet, daß ein Mädchen aus diesem Kreise überhaupt mich würde schätzen und lieben können. Was Wunder, daß mir nun Zweifel kamen an der Tiefe Deiner Empfindungen, daß vor allem die Sorge aufstieg, ob ich deine Liebe würde erwidern können? Aber Sorge und Zweifel, sie wurden übertönt von der Hoffnung, die mir aufs neue erblühte, sie wurden überglänzt von der Sehnsucht, die sich mächtig regte. Und heute, Du!, ist diese Hoffnung erfüllt, wie durch ein Wunder. Du bist mir die Eine und Einzige und Liebste. Mit Dir, das fühle und empfinde ich, werde ich bauen können, was mir vorschwebt, ein Heim, eine Heimat mit den guten Geistern uns[e]rer Elternhäuser. Nun darf ich einem Menschenkinde alle Achtung, Verehrung und Liebe entgegenbringen, die ich so lange bereit hielt. Nun empfinde ich glücklich, daß ich die reiche, die erste und ganze Liebe eines Mädchens empfange. Du! Liebe! Zwei Glücksucher sind sich begegnet und haben sich zusammengetan.

Herzallerliebste! Heute erhielt ich deinen Brief. Am Sonntag hast Du geschrieben. Du bist krank. Ob es Dir besser geht heute? Freitag und Sonnabend war auch ich etwas unpaß, allgemein Mattigkeit, dazu hatte ich es ein wenig aufliegen. Aber heute ist mir wieder ganz wohl. Außer einem Schnupfen habe ich nichts an mir. Herzliebes! Zwinge Dich nicht. Laß es sich austoben. Schlepp Dich nicht hin. Am Sonnabend will ich kommen und nach dem Rechten sehen. Deine Reise schieben wir auf. Wenn Du mir noch einmal Nachricht gibst über Dein Befinden, bin ich Dir recht dankbar. Nimm Dich gut in acht, sei brav und vernünftig, damit Du bald gesundest.

Den Briefschluß schreibe ich im Schulzimmer. Das kleine Volk ist eben hinaus. Ich möchte, daß Du den Brief morgen schon hast. Mit Deinem Boten lief auch Nachricht von Hause ein. Ich lege Dir Mutters Schreiben bei mit den Neuigkeiten vom Rekruten und der guten Botschaft, daß der Fuß heil ist. Heute gab es zum erstenmal warmen Sonnenschein, der den Frühling ahnen ließ.

Herzliebes! Möchte ich Dich am Sonnabend froh und gesund antreffen. Gott schütze Dich und behüte Dich!

[Ic]h finde gar keine besonderen Worte.

Möchte der ganze Brief Dir ein Zeichen meiner Liebe und Treue sein. Möge die Sonne unseres Glücks Deinen Körper wärmend und heilend durchrieseln zur Genesung. Und wenn Du bald gesund bist, darfst Du auch daran denken, daß ich Sonntag mit Dir feiern will, daß wir uns ganz nahe sein wollen und einander das Glück aus den Augen lesen. Jetzt aber laß mich nur Deine Hand streicheln, und das dröhnende Köpfchen, mußt ganz brav ruhig liegen, wenn es Dir auch schwerfällt, Du!

Ich denke immer Dein. Ich bete für Dich.

Ich liebe Dich! Du meine liebe [Hilde], Herzliebes!

Dein [Roland].

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946