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[OBF-390925-001-01]
Briefkorpus

Schmilka am 25. Sept. 1939.

Herzallerliebste!

So bunt und farbenfroh wie der Herbsttag heute, so wechselvoll und reich an Erlebnissen steht in meiner Erinnerung der gestrige Tag und der Abend zuvor. Die Erlebnisse stürmten auf uns ein, sie waren nicht geplant, sie kamen gezogen wie das Wetter, wie der Elbstrom vor meinen Augen, und wir mußten darin schwimmen. Und ich wundere mich heute, daß ich, aus einem Gleichmaß der Tage kommend, Kraft hatte, dies alles zu erleben. Der Kirchgang, Liebste, wie eigenartig! Ein vielgewohnter Gang, den ich zu Anfang wohl mit Herzklopfen tat, aber später nur noch an Festtagen — Du, gestern hatte ich wieder Herzklopfen dabei, es war ein Wagnis, vor einem halben Jahre scheute ich davor zurück. Daß ich Dora P. die Hand drücken konnte, zweimal, — und ich habe gegen meine Gewohnheit etwas fester gedrückt — das macht mich froh, und das war mir beinah das Wichtigste.

Unser Spaziergang, Liebste! Wenn ein Erlebnis mich überwältigen (will) oder erschüttern will, oder wenn ich sonst den Boden unter den Füßen verlieren will, beim Gang über Land, im Gleichmaß der Schritte, in der Kameradschaft mit den beiden alten Getreuen, den Füßen, finde ich ihn wieder. Gebe Gott, das wir noch recht oft miteinander und nebeneinander als Treue Kameraden in Freud und Leid marschieren dürfen und auf diesen Wegen jederzeit die Marschrichtung unsres Lebens wiederfinden mögen. Er war auch so eigenartig gestern. Die scharfe, durchsichtige Nordluft, die Beleuchtung, dieses verklärte Licht, die geruhsamen Wolkenschiffe. Am Stadtpark sagte ich noch: „diese herbstliche Sonne, zu schwach und außerstande, ein Wetter zu brauen“. Und nun kamen wir doch noch ins Wetter!

Und nun die seltsame Stunde der Ausgelassenheit; Liebste, Engelchen und Teufelchen! Fast möchte ich heute sagen: Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, es war wie eine Eingebung, und ich ahne nur, daß sie ihren Ausgang nahm vom Gewissen: War denn etwas, worüber ich mir hätte ein Gewissen machen müssen? Du! Du!

Die seltsame Heimkehr, Liebste! 005 [Uhr] waren wir in Dresden. Ich habe mich durchgefragt zum Christlichen Hospiz. Hier habe ich für 3 Mark wohl 3 Stunden geschlafen. ½ 6 Aufstehen. Planmäßig bin ich in Schmilka gewesen.

Das fünfte Erlebnis, Du, Du! Engelchen und Teufelchen, Du? Das taugt nicht für Zunge und Feder. Aber ich glaube, es war ein Zaubertrank, von dem wir nippten: Wer aus mir trinkt, will immer mehr!

Ach Liebste, weil er so selten war, der Tag, so selten reich, nun denke ich wehmütig an ihn zurück. Wenn ich in Oberfrohna zu Hause wäre, müßte ich heute unseren Weg noch einmal gehen. Wills Gott, sehen wir uns bald wieder. Und nun wollen wir diese Woche Kraft sammeln zu neuem Erleben. Du! Sicher bist Du bis dahin keine Nacht vor mir! Ich habe einen Schlüssel von Euch, ein Pfand. Bitte sage Deinen lieben Eltern noch vielen herzlichen Dank und passe zukünftig gut auf, daß sie sich meinetwegen keine, aber auch gar keine besonderen Umstände machen. Du weißt doch, daß ich das nicht brauche, und daß ich nicht komme, um mich zu mästen, sondern um bei Euch zu sein, um bei Dir zu sein.

Bei Dir sein: Die Hoffnung und heimliche Freude darauf wird meine Schritte beflügeln. Ich habe keine größere Freude und keinen heißeren Wunsch mehr als diesen.

Gott behüte Dich mir, er helfe uns zu einem Leben in seinem Namen. Meine liebe, liebe [Hilde], Engelchen und Teufelchen, ich küsse Dich, ich liebe Dich!

Dein [Roland].

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946