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[OBF-390805-001-01]
Briefkorpus

Kamenz am 5. August 1939.

Meine liebe [Hilde]!

Nun sitze ich tatsächlich wieder in Kamenz. Sprunghaft wie im Kino wechseln wir mit Auto und Eisenbahn die Schauplätze. Wenn ich hätte heimwandern müssen, wäre der Abschied länger geworden. Du hättest mich bis zur Elzing  begleitet. Und dann hätte ich ja noch oft zurückblicken müssen, bis auch der letzte Schornsteinkopf und die Kirchturmspitze verschwunden wären. Und so langsamer und allmählich hätten sich auch die Gedanken gelöst von dem Vergangenen. Und so wird deutlich, wie die alte Zeit ohne Auto und Eisenbahn besser verarbeitete und verdaute.

Der Abschied ist mir nicht schwer geworden. Wills Gott, wirst Du bald wieder bei mir sein. Ich konnte auch zufrieden heimkehren, zufrieden mit dem Ergebnis meiner Reise. Wenn wir einander in unseren Heimatorten und Elternhäusern besuchen, ist es ja ganz anders als wenn wir uns an einem dritten Ort begegnen. Hier sind wir frei und ungebunden. Dort sehen wir uns in allen Schranken, Bindungen und Befangenheiten dieses Lebens. Die beiden Bilder, die wir so voneinander gewinnen, werden allermeist kleine Unterschiede zeigen, sie ergänzen und korrigieren einander. Welches der beiden Bilder ist wertvoller, wichtiger, aufschlußreicher, echter? Wohl das Bild, das uns in den Bindungen dieses Lebens zeigt, unter Eltern und Großeltern, unter Freunden und Bekannten, in Haus und Beruf; denn dort haben wir uns bisher bewähren müssen, Stellung und Leumund, dort sind das Ergebnis von Jahren. Das ist die Bangigkeit in der Erwartung des ersten Besuchs im Elternhaus: Werde ich die guten Eindrücke, die ich von ihr gewann, bestätigt finden? Diese Frage hat in unserem besonderen Verhältnis ein besonderes Gewicht. Wir beide allein, Liebste, sind uns ja fast einig, und ich habe mir schon manchmal gewünscht, wir dürften nun allein und ungestört, allein allen argwöhnischen und mißgünstigen und zudringlichen Blicken entzogen, schaffen und bauen. Aber das ist ja unmöglich in dieser Welt. Niemand kann allein stehen. Wir müssen der Mitwelt die Achtung und Berechtigung unseres Bundes abringen. Und wenn wir keine Enttäuschungen erleben wollen, müssen wir einander auch kennen lernen in allen Bindungen und müssen mit unserem Ja zuletzt auch diese Bindungen bejahen; denn kein Mensch lebt ohne Voraussetzungen und alle sind wir verflochten und verwurzelt in Sippe und Geschlecht. Aus verschiedenen Gründen viel mir hier die schwerere Aufgabe zu. Du weißt und verstehst, daß mir davor bang[t.] Ich denke an den ersten, zaghaften Schritt, und denke daran, wieviel mutiger ich nun diesmal an die Lösung der Aufgabe heranging. Weil ich Dich liebe und Dir vertraue, und weil Dein Wesen mir Vertrauen einflößt, kam mir die Kraft dazu; und weil ich nicht enttäuscht wurde, ließ diese Kraft nicht nach.

So war mein Besuch eine richtige Aufgabe, und keine unwichtige. Ich kam nicht, um zu spionieren. Aber wenn ich Dich nun sah, neben Eltern und Großeltern, dann begann ein heimliches Messen und Wägen und Lauschen, und wo überall wir uns zeigten und gesehen wurden, da gab es einen kleinen Kampf zu bestehen in uns, und voreinander und mit den anderen, Du hast es auch gespürt. Und ich kann von mir sagen, daß ich nicht ohne Lust gekämpft habe.

Nach allem, was ich nun bei Deinen Verwandten sah und hörte, könnte ich längst keine gültigen Urteile fällen, aber alle Eindrücke zusammen gaben ein gutes Bild, und ich konnte froh sein bei dem Gedanken, daß die guten Gaben, die ich an Dir kenne und schätze, nicht zufällig sind und Ausnahme, sondern daß sie in Eurer Familie liegen, bisher vielleicht unbeachtet und unentwickelt. In Deinem Elternhaus empfing ich mir gute Eindrücke. Ich erhielt Einblick in Euren harten Werktag. Ich sah, wie so kameradschaftlich Ihr die Mühen teilt und so Euer Hauswesen auf der Höhe haltet. Ich sehe, wie Deine Eltern schaffen, damit du es einmal leichter haben sollst, liebe [Hilde]! Vielleicht ist das der einzige und beste Sinn, den ihre harte, böse Arbeit haben kann.

Was bleibt von uns beiden zu sagen? Du selber hast so tapfer durchgehalten, Liebste, und mir jeden Tag noch so viele Stunden Gesellschaft geleistet. Hast Du sie in guter Erinnerung und hast Du auch keinerlei Schaden genommen? War es nicht schön wie schnell wir immer unser Vertrautsein wiederfanden? Haben wir nicht schon unseren eigenen Ton und unsere eigene Sprache, in der nur wir uns verstehen und die wir abschalten, wenn andere zugegen sind? Ach Liebste, ich bin so glücklich, daß Deine Nähe mich so aufgeschlossen macht! Möchte es doch immer so bleiben!

Herzliebes! Sei mir nicht böse. Dein Brief ist nicht fertig geworden. Ich bin so schreibfaul und muß erst alle vernünftigen Gedanken wieder herzukramen [sic]. Am Donnerstag kam ich erst ½ um 1 Uhr nach Hause. Der D-Zug hatte ½ Std. Verspätung. Das kann Dir also auch blühen. Der nächste Zug nach Kamenz fährt dann 1141 Uhr (ohne Umsteigen in Arnsdorf). Am Freitagvormittag habe ich bei Frenzels auf dem Thonberg Johannisbeeren gepflückt für uns, gestern, Sonnabendnachmittag als noch einmal als Erntehilfe für den Opa in Lichtenhain zum Johannisbeerwein. Heute, Sonntag, erhielt ich auf meine Anfrage Antwort von Oberlehrer K.. Ich soll morgen zu ihm kommen. Ab Dienstag soll es dann 3 oder 4 Tage nach Böhmen gehen. Am Wochenende soll ich zurückkehren. Ich denke daran, daß nun alle Briefe, die Du noch schreibst, nicht mehr in meine Hand gelangen. Wir rechnen mit Deiner Ankunft am nächsten Sonntag, so wie es verabredet war. Du bist uns allen recht herzlich willkommen und sollst Dich in diesen 14 Tagen unter anderem auch recht erholen! Mit Deinem Aufenthalt bei uns sollen meine Ferien ihre Krönung erhalten. Solltest Du noch etwas Wichtiges, Deine Ankunft und Reise betreffendes, zu vermelden haben, müßtest Du es an meine Eltern richten, damit es überhaupt geöffnet wird. Von mir wirst Du noch hören.

Hast nun allen Schlaf nachgeholt, Liebste? Kannst Dich nun in der eigenen Flohkiste, diesem Wunderwerk, was die Abmessungen betrifft, langstrecken. Schlaf Dich munter und gesund, laß Dir süßes träumen. Behüte Dich Gott. Nun darf ich Dir schon wieder glückliche Reise wünschen. Komm zu mir, Liebste!

Ich küsse Dich, ich liebe Dich!

Dein [Roland].

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Autor Roland Nordhoff
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Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946