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[OBF-390618-001-01]
Briefkorpus

Lichtenhain am 16. Juni 1939.

Meine liebe [Hilde]!

Sonne des Glücks leuchtete mir aus Deinen lieben Zeilen entgegen und verscheuchte die letzte Amtsmiene und den Groll und Kleinkram des Alltags. Das habe ich erst mit Dir gelernt, Liebste: glücklich sein, indem man andere beglückt. Ein andrer Mensch bin ich innerlich wohl nicht geworden, liebe [Hilde]. Oder doch?

Aber befreit hast Du mich von einem inneren Druck, angezapft hast Du den See meiner Liebe, einen Menschen habe ich gefunden, dem ich mein Herz zeigen kann, weil er mich liebt. Niemanden hatte ich bisher, dem ich sagen konnte, wie mir ums Herze war. Unsre Schule und Bildung wandte sich fast ausschließlich an den Verstand. Die Stimme des Herzens wurde unterdrückt, denn Herzenswärme vertrug sich schlecht mit Verstandeskälte. Ja, die Regungen des Herzens schienen uns als unlauter und unsauber oder als Schwäche verdächtig. Man unterdrückte sie und blieb kühl, um stark zu erscheinen. Man schämte sich, das Herz zu zeigen und sprechen zu lassen. Die Umstände brachten es auch mit sich, daß ich den Eltern und Geschwistern mein Herz und meine Liebe nicht mehr zeigen konnte. Und es brannte doch oft so heiß und war so voll zum Überlaufen --- [Hilde], liebe [Hilde], Du hast es befreit, das gefangene Herz. Du hast es schlagen hören unter dem Schulmeisterwams. Du hast seine Wärme gespürt hinter der Verstandeskälte. Oder hast Du es klingen hören beim Musizieren? Ja, die Musik, sie war das Gefäß, in das sich das übervolle Herz manchmal ergießen konnte, beim Singen konnte ich zuweilen vergessen, daß ich es doch verbergen wollte. Was danke ich der Musik nicht alles, auch, daß wir uns fanden, Liebste. Und der ich mein Herz öffnen konnte, sie durfte nicht viel anders sein, als Du bist. Ja, manchmal will mir scheinen, daß es nur Dir sich erschließen konnte: einem unverbildeten, unverbogenen Menschenkind mit gesundem, starkem und tiefem Empfinden; einem Mädchen, das sich das Wunschbild reiner, glückvoller Liebe ungetrübt bewahrte. Aber ich hätte Dich nicht gefunden, wenn Du nicht mutig vorgestoßen wärest durch Schulmeisterwürde und Eis des Verstandes zu meinem Herzen. Ich wäre scheu und gefangen für mich geblieben, wenn Du mich nicht mit Deinem großen Vertrauen aus meiner Zurückhaltung gelockt hättest. Weil Du so ehrlich und tapfer warst, Dein Herz zu zeigen und auszuschütten, hast Du mich gezwungen und ermutigt, gleich ehrlich zu sein. In diesen Wochen jährt sich so vieles Entscheidende und ganz von selbst gehen die Gedanken zurück. Als ich bei meinem Weggang von Oberfrohna Herrn P. die Summe von 1,50 M überantwortete, tat ich es in der ungewissen, beinahe abergläubischen Hoffnung, es könnte der Faden, den wir fallen ließen, wieder aufgenommen und weitergesponnen werden. Ich rechnete, daß Du doch die Überraschung bemerken und vielleicht auf einem Kartengruß aus Annaberg ihrer Erwähnung tun würdest. Wie schon manchmal früher, klammerte sich die Hoffnung an einen Strohhalm. Und ihre Erfüllung schien so unwahrscheinlich wie ein großer Lotteriegewinn oder wie die Tatsache, daß ein dürres Holz sich begrüne. Und nun? Reicher als ich erwarten durfte, war die Erfüllung: Es schlug mir ein Herz in Liebe und Treue, [Hilde], meine liebe [Hilde]! Es hat meinen ganzen Menschen erschüttert und in Aufruhr versetzt — nun war es an mir zu handeln. — Und heute vor einem Jahre, liebe [Hilde], da fuhr ich aus zur Brautschau. Als sollte ich mir eine erwählen, so wichtig und feierlich war mir zumute. Gewißheit brachte mir dieses Wiedersehen nicht. Wir sehen heute, daß es auch nicht möglich war. Aber so leicht ließ ich mir die Hoffnung nicht entwinden, und über den ersten Schmerz der Enttäuschung siegte rasch der Entschluß: Ich will ihr wenigstens helfen. Über die ungünstige Zufälligkeit unsrer Begegnung stellte ich schon damals die günstige Regelmäßigkeit unseres Briefwechsels. Darin bestand ja überhaupt die Enttäuschung, daß ich die Schreiberin der Briefe nicht recht wiedererkannte. Mit Spannung sah ich Deinem nächsten Brief entgegen, ich erwartete, daß Du darin Deine Unzufriedenheit zum Ausdruck brächtest. „Soll ich Ihnen sagen, daß ich unzufrieden bin?” So begann er wirklich, und ich wurde froh darüber. Dürfen wir nicht dankbar zurückschauen, Liebste, und zuversichtlich weiterschmieden an unserem Glück.

Ich weiß Dich heute unterwegs und denke Deiner oft.

Diese Woche ist mir schnell vergangen. Daran sind die Sommergäste mitschuld [sic]. Wir haben etliche Stunden versessen in launiger Runde, meist nach dem Abendbrot. Zu dem netten Ehepaar — Er ist Aufsichtsbeamter bei der Berliner U-Bahn, ein feiner Menschenkenner, hat viel erlebt in seinem Dienst — gesellten sich drei KdF-Gäste, darunter zwei Mädchen etwa in Deinem Alter. Es waren alle liebe Leute, keine schnoddrigen Berliner, wie man sie sonst manchmal kennen lernt. Wie ich mich in dieser launigen Runde benehme, kannst Du Dir ja denken. Ich bewundere, wie gewandt und geschickt diese Leute erzählen, die Berliner sind schlagfertig und haben einen guten Humor. Wie die Leutchen alle unterko[m]men? Herr H. schläft in der Kammer neben der Wohnstube, Frau H. auf dem Sofa, oben hausen die Fremden. Für Dich wäre jetzt gar kein Platz, Du!

Am Dienstag erreichte mich ein Brief Deiner Mutter. Ich sah ihr frohes Gesicht und spürte ihren herzlichen Händedruck, als ich die Zeilen las.

Am vorigen Sonntag, während Du Dich in Deinem Kämmerlein eingeschlossen hattest, bin ich nach dem W. gegangen. Es war sehr schwül. Meine Zechschuld hatte am Sonntag vorh[er] mein Kollege V. getilgt. Für morgen habe ich mir noch nichts Bestimmtes vorgenommen. Heute schrieben mir meine Eltern. Ich berichtete Ihnen [sic] ausführlich von unsrer Fahrt, auch von Deinen Eindrücken in Kamenz. Vater und Mutter lassen Dich herzlich grüßen.

An diesem Brief habe ich eigentlich lange gesessen. Er geht heute erst ¾ 8 mit weg. Hoffentlich gelangt er pünktlich in Deine Hände. Meine roten Briefmarken sind mir ausgegangen.

Meine Bote wird Dich in weichen Pfühlen sanft schlummernd antreffen. O Liebste, den ich früher beneidete, er hat mir nichts mehr voraus, o Du, Du! Möchte Eure Ausfahrt glücklich verlaufen sein! Behüte Dich Gott, Herzliebes! Geräuschlos auf den Zehenspitzen trete ich an Dein Bettchen, und setze mich auf den Rand, und nehme das liebe Köpfchen in meine Hände und küsse Dich, Herzallerliebste.

Ich liebe Dich!

Dein [Roland].

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Autor Roland Nordhoff
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Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946