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[OBF-390610-001-01]
Briefkorpus

Lichtenhain am 5. Juni 1939.
Am Montag.

Meine liebe [Hilde]!

Der erste Schultag ist vorbei. Beihnahe gleichgültig, im gewohnten Gleise gehend, tat ich meine Arbeit. Sie erscheint mir so unbedeutend und glanzlos gegen das, was wir erlebten. Nun scheint doch wieder die Sonne — und Du bist nicht bei mir, bist so weit weg von mir! Fast bin ich erschrocken über meine Augen, als ich vorhin in den Spiegel sah. Sie glänzen unheimlich und dunkel und abwesend und suchend. Du! Was sie alles schauten und tranken, und womit sie sich füllten in diesen Tagen! Und sie werden ja nicht ruhen, bis sie all das Süße und Schöne wiederschauen.

Dankbar denke ich darain, daß wir unsre erste Ausfahrt glücklich beschlossen, wie uns so alles nach Wunsch und Plan ging, erst in Kamenz, und dann in den vergangenen Tagen. Fast ein wenig unheimlich, wie zuletzt uns die Umstände entgegengekommen, mehr als wir wünschen durften. Du, ich bin doch auch froh, daß wir die Freude nicht überschäumen ließen. Es war doch wie im Märchen. Ich hätte ja nie geglaubt, daß ich einmal so den Glückshans spielen dürfte. Und die Erinnerung an diese schönen Tage, sie brennt nur in unseren Augenpaaren, das macht sie mir köstlicher, und wenn ich sie auffrischen will, dann brauche ich Dich, Du, die Glücksgrete. Und der Gedanke will mich am ehesten trösten über die Wehmut, daß nun alles der Vergangenheit angehört. Auch Deine Augen leuchten und suchen und werden nicht Ruhe geben, uns[e]re Gedanken müssen sich begegnen in dem Erinnern und in der Sehnsucht nach dem vergangenen Glück.

Bleibe bei mir, Liebste!

Am Dienstag.

Meine liebe, liebe [Hilde]!

Frei bin ich für heute. Ach Liebste, was taugt mir die Freiheit, wenn ich Dich nicht bei mir habe! Ich war heute recht müde im Dienst. Der Briefträger brachte eine Karte aus O., Grüße der Kantoreigesellschaft. Ich empfand ein wenig Freude darüber. Sie sind ohne Dich ausgeflogen. Es ist gewiß viel über uns geredet worden. Liebste, es werden immer mehr Zeugen uns[e]rer Freundschaft, und die Freundschaft selbst eine Tatsache, mit der man rechnet — und heute macht mich das froh, Du!

Ich sitze dem Spiegel gegenüber, und nun muß ich an unser Lied denken:

Du milchjunger Knabe, was siehst Du [sic] mich an?

 

Was haben deine Augen für eine Frage getan?

 

Alle Ratsherrn der Stadt und alle Weisen der Welt

 

bleiben stumm auf die Frage, die deine Augen gestellt.

 

Eine Meermuschel liegt auf dem Schrank meiner Bas',

 

da halte dein Ohr dran, dann hörst du etwas.

 

Ach Liebste, waren wir nicht recht glücklich miteinander?

Denk an die Menschen, denen wir begegneten, unter denen wir weilten, waren wir nicht die glücklichsten, Du und ich? Wir dachten kaum nach Hause, wir waren uns selbst genug, wir empfanden, daß wir zusammen wohl froh und mutig werden diese Erdenreise antreten können. Gestern fand ich in meinem braunen Heft dieses Wort:

Zum Vergnügen gehört der Flirt, das vielfältige, abständige Spielen miteinander.

Zum Glück gehört, sich ab und zu völlig der Urgewalt der Wollust hinzugeben.

Erlebten wir nicht auch viel reine Freude? Und hast Du nicht froh bemerkt, welche Reserven der Freude in der Musik noch fast unberührt liegen? Ach Liebste, ich freue mich so darauf, mit Dir viel schöne Lieder zu lernen und zu singen. Ach Du, wir sind nicht fertig geworden miteinander in diesen acht Tagen — wir wären es, wenn nur sinnliche Liebe uns verbände —, sondern wir sehen neue Aufgaben, und ich sehe unseres Weges kein Ende, Du, Herzallerliebste!

Am Mittwoch.

Es ist ½ 11 Uhr am Abend. Endlich ist dieser Mittwoch um.

Was soll er mir? Wo bist Du? Was treibst Du? Ach, wenn ich Dich wenigstens sehen könnte, nur klein, von ferne. Ich möchte laut heulen, wenn es nur etwas nützte. Vielleicht wird es besser, wenn ich ein Zeichen von Dir erhalte. Ein wenig Ablenkung bringt mir der Berliner Besuch, ein älteres Ehepaar, nette, einfache Leute. Wir waren am Nachmittag zum Plinsenschmaus auf dem Hochbusch. Den Weg hinauf ging ich allein. Meine Gedanken waren bei Dir. Ich unterhielt mich mit Dir. Und jetzt will ich schlafen gehen. Welches Bild ich sehe, wenn ich meine Kammer betrete? Du! Vor acht Tagen um diese Zeit, denkst auch Du daran? Gut Nacht, Liebste. Morgen, will's Gott, sind wir dem Wiedersehen einen Tag näher. Mit Dir will ich aufstehen um fünf. Gut Nacht, meine liebe [Hilde]!

Am Donnerstag.

Meine liebe [Hilde]!

Vor 8 Tagen um diese Stunde setzten wir den Fuß an Land, auf unser Märchenland. Wie werden wir unterkommen? Wir stiegen zur Waldmühle — Walpurgis — Nr. 149 — Nr. 148, Josef T.. Mir ahnte etwas. Wohnungssuche hat etwas Schicksalhaftes, liebe [Hilde], ich weiß das gut. Und ich traf es noch nirgend schlecht. Das danke ich dem gütigen Geschick, und vielleicht liegt es auch daran, daß ich es recht aufnahm. Und nun diesmal? Äußerlich war ich Herr der Lage, aber innerlich war ich voll Unruhe, Du! Du!

Hemmungen und Widerstände schalteten sich doppelt stark ein, als Du und die Wirtsleute mir ihr Vertrauen schenkten. Verantwortung, Pflichtbewußtsein, die guten Vorsätze waren stärker als Neigung und Versuchung. Ich mußte Dich betrüben, liebe [Hilde]. Bist Du mir böse deswegen, Du? Ich kann mein Handeln nicht bereuen und müßte wieder so handeln. Heute brachte ich meine Filme nach Sebnitz. Ich bin ja gespannt, was wir zusammen zustande gebracht haben. Du hast die Deinen gewiß schon in Händen.

Am Dienstag nächster Woche soll Wandertag sein. Am Sonntag, den 25. Juni soll das Schulfest abgehalten werden. Das sind nun 2 Stationen auf dem Wege bis zu uns[e]rer nächsten Begegnung. Wir müssen tapfer aushalten.

Gott behüte Dich, Herzliebes! Behalte mich lieb!

Am Freitag.

Ach Liebste! Nun hat mich die Pflicht wieder. Hart sein muß ich wieder, und das kann ich nur, wenn ich hart bin zu mir selbst. Und nun erscheinen unsre Ferientage in einem verklärten, unwirklichen Schimmer. Wenn wir die Summe ziehen aus diesen Tagen —

Es sträubt sich etwas in mir, so kaufmännisch aufzurechn[en], mit harten, scharfen Worten ein Ergebnis zu formulieren. Konnten wir einander noch lieber haben? Hast Du nicht wie ich den Wunsch, daß es so bleiben möchte? Und wissen wir nicht beide, daß zwischen den Gipfeln und Höhen dieses Lebens Tage strammen, anstrengenden Marsches liegen, vor denen mir aber gar nicht bangt, wenn ich an Dich denke? Ach liebe [Hilde], noch einmal kamen alle Zweifel, am Freitag und Sonnabend. Sie verschwanden, als Du nun endlich dawarst [sic]. Ich glaube, sie kommen so arg nicht wieder. Und ich sehe es kommen, ich werde noch Grund haben, sie Dir alle abzubitten, Du Liebe, Du Gute. Froh schieden wir von Hause. Mutter weinte beim Abschied, wohl aus übervollem Herzen, voll von guten Wünschen, Sorgen und Hoffnungen. Vielleicht ist ihre größte Sorge, daß wir uns liebgewinnen und verstehen lernen. Wenn sie hätte sehen können, wie wir das schon können, und wieviel Kraft es uns kostete, es zu verbergen, Du! Du! Heute, nach dem Unterricht um ½ 6, bin ich noch einmal nach Sebnitz gepilgert, unsre Bilder zu holen, ich konnte es nicht länger erwarten und morgen will ich sie ja Dir schicken. Alle gut geraten. Ich bin zufrieden und freue mich mit Dir. Wie ich Dich, zum [Unklar]stein blickend, an der Bordwand lehnen sehe, möchte ich zu Dir treten und Dich umfassen, Liebste. Und diese Bilder, so willst Du es, sollen unser erster gemeinsamer Besitz sein, Du! Ich mag nicht dagegen sprechen und bin so froh darüber.

Am Sonnabend.

Herzliebes!

Heute kam Dein Brief.

Alle Empfindungen ruft er wach in mir, unser Glück, die Dankbarkeit gegen Gott und Eltern und gegen Dich, Du, [Hilde], [Hilde], ich liebe Dich.

Daß wir Deine liebe Mutter so auf die Folter spannten, tut mir aufrichtig lied [sic]. Bitte, entschuldige uns doch auch noch einmal in meinem Namen und stelle ihr vor, daß der Mittwoch und Donnerstag doch richtige Reisetage waren und versprich ihr, daß wir am [sic] nächsten Male fleißiger schreiben wollen. Unsre Bilder? Ich freue mich ja so mit Dir. Daß Du nun wieder so schwer dran mußt, tut mir ja so leid. Ich schicke alle Reisebilder zurück, damit Du Dich daran freuen magst. Ich habe sie auf der Rückseite nach ihrer Entstehung num[m]eriert. Eines habe ich behalten. Vier stecken noch im Apparat. Hast Du Deinem Vater den Bunker gezeigt auf Nr. 9?

Mit Deinem Brief kam ein Kartengruß von meinen Eltern aus St. Wolfgang am Wolfgangsee. Eine Postkarte meines Bruders lege ich bei ihrer Originalität wegen.

Bitte, grüße Deine Eltern.

Ich muß nun zum Schluß kommen.

Ich freue mich, Dir solch dicken Brief schicken zu können. Liebe [Hilde], welch frohe Zeit ist für uns angebrochen!

Nun soll mich nichts so leicht betrüben.

Möge Gott wachen über unserem Glück und unseren Herzen! Im Aufblick zu ihm wiederhole ich es froh und dankbar, daß es Dich recht beglücken möge: Ich liebe Dich, Du, meine liebe, liebe [Hilde]!

Ich möchte Dir ganz nahe sein, ich küsse Dich und grüße Dich, Herzallerliebste,

Dein [Roland].

 

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Ausschnitt aus dem Brief.

Ba-OBF K02.Pf1.390610-001-01c.jpg. Ausschnitt aus dem Brief.

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946