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Briefkorpus

Lichtenhain am 20. Mai 1939.

Meine liebe [Hilde]!

Pünktlich und glatt bin ich ½ 10 Uhr zu Hause gelandet. Es ist ein angenehmes Reisen in der Frühe. Die Züge sind wenig besetzt und fahren pünktlich. Während der Wartezeit in Chemnitz spazierte ich auf meinem Bahnsteig. Auf dem Bahnhof habe ich nicht Langeweile und mein Interesse ist schnell gefangen von diesem großartigen Transportmittel für die mancherlei Männlein und Weiblein. Lange stand ich bei einer Maschine. Die Wasserpumpe ging, aber alles Wasser floß anstatt in den Kessel unten heraus in einem dicken Strahl. Ich machte den Heizer darauf aufmerksam. Der kletterte heraus und behob den Schaden, indem er an einem Hahn stellte. Während ich noch ganz versunken seine Hantierungen beobachtete und meine Heldentat bedachte, wurde ich von der Lokomotive eines einfahrenden Zuges ordentlich angepfiffen. Ich hatte den Zug nicht beachtet und stand zu weit vorn. Im Zuge nach Schandau habe ich allen Mundvorrat mit großem Appetit aufgezehrt, Eurer lieben Fürsorge dankbar gedenkend.

Liebe [Hilde]! Ihr habt mich wieder so lieb aufgenommen. Ich fand alles so gut vorbereitet, es wurde alles so selbstverständlich und unaufdringlich gereicht und gewährt. Ich schied froh mit dem Gedanken: dieses Hauswesen ist immer in dieser guten Ordnung. Ich habe nicht daran gezweifelt. Der beste Dank aber wird Dir und Deinen Eltern sein zu sehen, daß ich mich darin wohlfühlte und mich schon ein wenig vertraut damit zeigte. Und nun der Besuch in seiner Bedeutung für uns: Er stand ein wenig im Schatten des anderen Ereignisses, der Musterung. Der Gedanke daran und die Vorbereitungen dafür störten schon die Vorfreude ein wenig. Wenn ich davon auch nichts besonderes erwartete oder gar befürchtete, so war ich doch darauf gespannt, wie man eben auf etwas ganz Neues gespannt ist. Und nach jeder Spannung stellt sich eine Ermüdung ein. Dazu die Ungewißheit, wann werde ich fortkönnen, werde ich den Eilzug noch erreichen, dazu die alberne Omnibusfahrt: ich kam zu Dir ziemlich müde und abgespannt. Und diese Müdigkeit hat im Laufe des Besuches eher zugenommen. Ich bin noch heute müde und matt. Das führe ich so umständlich aus, weil ich fürchten muß, daß ich Dir ein wenig stumpf und lustlos erschienen bin. Und ich hatte doch Grund genug, Dir dankbar zu sein, Du Süße, Du Liebe! Hast Du in meinen Augen doch ein wenig Dank und Freude und Glückseligkeit gelesen? Ach, liebe [Hilde], die Glückseligkeit Deiner Nähe besteht nicht nur in dem Gedanken an die böse Lust; ich glaube, sie besteht zum größeren Teil in der Freude des Besitzes, die erhöht wird, durch das Bewußtsein, daß sie ganz allein mir zuteil wird; sie besteht gewiß nicht zu geringem Teil in der Freude an der Schönheit und an dem Reiz der weiblichen Gestalt, die ich früher nur schau aus der Ferne bewundern durfte; und das Verlangen, das fast inbrünstige Verlangen, körperlich einander ganz, ganz nahe zu sein, erhebt es sich nicht über das Tierische, hat es nicht etwas Dunkles, Seltsames, auch etwas Tragisches? Darüber aber wollen wir beide wachen, daß diese Freude der Sinne rein bleibt, und daß sie die edleren Gefühle gegenseitiger Zuneigung, Achtung und Liebe nicht überwuchert. Ich bin darum kaum in Sorge.

Schon in meinem Plan, sollte dieser Besuch nur die Bedeutung eines Zwischenspiels, eines Intermezzo, haben. Bevor sie Dich mir anvertrauten 8 lange Tage, wollte ich Deinen Eltern noch einmal gegenüberstehen. Diese 8 Tage, vor allem aber Dein Besuch in Kamenz, werden von Bedeutung sein. Mit diesen Worten will ich Dir nicht bange machen. Ich zweifle nicht daran, daß alles glatt geht. Du darfst auf meine Hilfe zählen. Daß es glatt geht, ist auch nicht das Entscheidende. Aber es wird das Gefühl von Bedeutung sein, mit dem Du mein Elternhaus verläßt, mit dem wir beide Kamenz verlassen. Morgen werde ich den Brief nach Hause aufsetzen. Ich werde ihn Dir zu lesen geben. Du wirst nähen und schneidern. Und so arbeiten wir wieder eines für das andere und unsre Gedanken können nicht fehlgehen.

Christa ist heute abgereist. Frau H. bringt sie nach dem Thonberg. So selbstverständlich wie sie blieb, packte sie [i]hre Sachen. Keine Träne hat sie vergossen, auch nicht für den guten Opa. Eine gewisse Kälte ist schon an diesem Kinde. Der erste Schub KdF-Gäste wurde heute abgesagt. Lange Gesichter im ganzen Dorfe. Gründe nicht bekannt.

Ich sehe nichts mehr Schreibenswertes heute.

Möchten Dich die Zeilen froh und gesund erreichen. Achte auf Deinen Husten!

Welche Stunde mir die liebste war? Du! War sie es auch Dir? Und wir dürfen hoffen, daß es nicht die einzige bleibt. Du! Der Prüfstein dafür aber, daß ich Dich recht lieb habe, kann Dir nur immer wieder mein Wesen sein, wie es Dir auf der Wanderung begegnete.

Behüt Dich Gott, liebe [Hilde]!

Ich bin Dir so dankbar, Liebste.

Ich habe Dich recht lieb. Ich spüre Deine Nähe, Du! Ich küsse Dich, meine liebe [Hilde]!

Dein [Roland].

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946