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[OBF-390320-001-01]
Briefkorpus

Lichtenhain am 20. März 1939.

Meine liebe [Hilde]!

Schulfrei ist heute Montag. Um 11 Uhr habe ich die Eltern zur Bahn gebracht. Sie kamen am Sonnabendnachmittag. Sonnabend war Gesangvereins,ball’. Ich mußte mich sehen lassen und bis 2 Uhr bleiben. Es war weder dörflich traulich und gemütlich noch städtisch festlich und vornehm, und ich verweilte dort mit großem Unbehagen. Sonntagvormittag um 10 Uhr war unsre Schulentlassung, richtig parteiamtlich aufgezogen. Erst dann konnte ich mich den Eltern widmen. Meinem Vater gefiel es sehr gut hier, er hatte sich bald mit Herrn Hoffmann angefreundet. Am Nachmittag sind wir mit H.s nach dem Tanzplan ausgeflogen. ‚Die Alten’ fanden viel Vergnügen daran. Ich war nicht recht aufgelegt, fand aber dann doch auch Freude an der prachtvollen Winterlandschaft. Viel lieber wäre ich ganz allein gegangen. Ach liebe, liebe [Hilde]! Mein Sinn ist trübe diese Tage, sie gehen auch wieder vorüber.

Unsre Politik gefällt mir nicht[.]

Am liebsten möchte ich immer nur an Dich denken und an unsre Freundschaft — aber es ist dazu jetzt so wenig Zeit, ich werde darin so oft gestört.

„Hast Du mich noch lieb?“ Kannst Du mich noch liebhaben? So wollte auch ich fragen im letzten Brief. Ich ließ es dann doch weg.

Wen sollte ich sonst lieb haben? Du!

Es ist gut, daß Du heute nicht bei mir bist. Du! —

Ach Du! Noch im Spiel ist mir die Liebe etwas so ernstes, daß mir ein erlösendes Weinen näher ist als ein befreiendes Lachen.

Anders bin ich darin als mein Vater, das habe ich diese Tage wieder gemerkt. Und verwandt bist Du mir in dem ernsten, gesunden Empfinden.

Ich suche noch immer nach Antwort und Erklärung dafür, wie es sein kann, daß die sinnliche Liebe so Macht über uns gewinnen kann. Es bleibt gültig, was ich schon schrieb:

Wir sehen uns nur alle 4 Wochen, und da ballen sich alle Empfindungen und drängen nach Befreiung.

Zum ander[e]n erleben wir nun beide das große Weltenrätsel des Liebens. Der weise Erzähler der Schöpfungsgeschichte faßt es in diesen ^knappen Worten zusammen: Und Adam erkannte das Weib.

Im alten Volkslied heißt es so bedeutsam: zum Hassen oder Lieben ist alle Welt getrieben. Alles Denken und Dichten des Menschen kreist um dieses Geheimnis. Wären wir nicht flache Menschen und von schwachem Empfinden, wenn es uns nicht packte? Es ist mir kein Genießen, es ist mir ein Erlebnis, Du merkst es an meinem Atem. Ich mag es nicht heilig nennen dieses Wort paßt dafür nicht. Hassen — Lieben, Antipathie —Sympat[hie] sind wirksame Kräfte des Weltenraumes und damit von Gott gesetzte Ordnung. Aber es haftet auch ihnen der Fluch aller Schöpfung an: unvollkommen, vergänglich, verderblich. Deshalb ist es wohl schief zu sagen: Liebe ist Sünde.

Auf allem Irdischen lastet der Fluch, die Sünde: unvollkommen, verweslich, vergänglich. Treue, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit: Wo treten sie uns rein entgegen? Wo ist vollkommenes Glück? Das alte Gleichnis, die alte Erzählung der Bibel deutet es so?: Ungehorsam gegen Gott waren die Menschen. Sie lehnten sich gegen ihn auf, sie sonderten (Sünde) sich von ihm ab. Und nun entstand eine große Kluft zwischen Gott und Mensch. Gott stieß die Menschen, die vorher in glücklichem Einklang mit seinem Willen lebten, in die Tiefe des Zweifels, des Zwiespalts, des Hassens und Liebens, des Kämpfens und Ringens. Alles Irdische sonderte sich von Gott, also auch die Liebe. und daß sie unvollkommen ist und daß auch sie, die vielbesungene, den Keim des Verderbens in sich trägt, das brachtest Du selbst zum Ausdruck, als Du schriebst: Die Liebe ist wie ein Gift. Tausend Erscheinungen könnten das bestätigen. Die rechte Haltung und das rechte Maß, in ernstem Bemühen und mit Gottes Hilfe wollten wir sie schon finden. Ach Du, der Wunsch wird stärker in mir: mein Haus zu bauen, anders als die andern, nach meinem Willen. Wenn ich daran denke, daß Du mit mir bauen willst, wenn ich mir Deinen Mut, Deine Güte, Deinen Idealismus und Dein Vertrauen vorhalte, dann will es mir leicht werden zu sagen: Ich wag’s mit Dir.

Ach liebe [Hilde]! Deine Bilder und Briefe können mir heute nicht helfen. Wenn ich diese Zeilen unterwegs weiß, wird mir ein wenig leichter sein.

Gute Nacht, Liebes! Behüt Dich Gott!

Ich küsse Dich und grüße Dich recht herzlich

Dein [Roland].

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946