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[OBF-390308-001-01]
Briefkorpus

Lichtenhain am 8. März 1939.

Meine liebe [Hilde]!

Pünktlich erhielt ich heute Deinen Brief. Vielen Dank für Deinen Plan. Ich nehme ihn an. Den kommenden Sonntag halte ich mir frei. Ganz ohne Gewalt geht das meistens nicht. Fast jede unsrer Begegnungen hat etwas Zwingendes, will sagen, sie konnte nur eben an diesem und keinem anderen Tage sein. Im Prinzip wollen wir uns alle 4 Wochen treffen. Diese Spanne soll möglichst nicht um über eine Woche verkürzt oder verlängert werde. Du weißt, wir haben eine Woche gut. Der kommende Sonntag wurde bedroht durch den Gesangverein und durch den Besuch, die Absicht eines Besuches, meiner Eltern. Nachdem dieser Brief abgegangen ist, wäre nur höhere Gewalt ein Hinderungsgrund.

Ich möchte mit Dir die Oper Fidelio (von Beethoven) besuchen. Es ist eine von den Opern, die der Musiker kennen muß, eine der plastischen Opern. Ich kennen sie selbst noch nicht, und freue mich darauf, diese Lücke zu schließen an Deiner Seite. Ich komme mit dem Eilzug 1747 [Uhr] in Chemnitz an. Wenn Du 1653 [Uhr] in Oberfrohna abfährst, kannst Du 1727 [Uhr] in Chemnitz sein. Ich hoffe Dich unten an der Sperre im Tunnel zu sehen, meine liebe [Hilde]!

Daß ich Deine Eltern nicht noch an diesem Abend begrüßen soll, daß sie nicht teilhaben sollen an der ersten Freude, mich im neuen Heim zu begrüßen, daß Du sie durchaus ins Bett kommandieren willst, und das gerade diesmal, wo ich die Gastfreundschaft in so weitem Maße in Anspruch nehmen will: das geht mir gegen den Strich, auch wenn Du Dich gerade darauf freust. Wiederum möchte ich Dich einige Stunden für mich haben und keine Gelegenheit versäumen, gemeinsam etwas zu hören und zu sehen. Vielleicht kannst Du Deine Eltern doch bestimmen, bis um 11 aufzubleiben. Wir richten es auf jeden Fall so ein, daß wir um 11 draußen sind. Sie sollen beileibe nicht mit dem Essen warten, sie dürfen dann meinethalben auch etwas eher schlafen gehen, aber begrüßen möchte ich sie doch. Verstehst Du das, Liebes? Bitte, sagen Deinen Eltern herzlichen Dank für die Einladung und für das Anerbieten, mich zu beherbergen. Bitte besorge für mich ein paar schöne Blumen für 2,50 M!

Daß unser Geheimnis nun keines mehr ist, diese Nachricht hat mich kaum mehr in Erstaunen gesetzt. Ich werde Einzelheiten von Dir hören. Liebe [Hilde], Du besinnst Dich, daß ich diesen Fall in einem Brief schon in Erwägung zog. Du tapfere stehst nun im ersten Feuer. Manch messender, manch zweifelnder Blick wird Dich treffen. Man wird sich in Vermutungen und Weissagungen ergehen im Gespräch über uns. Liebe [Hilde], wir brauchen uns uns[e]rer sauberen und herzlichen Neigung nicht zu schämen. So innerlich frei, wie wir uns gegenüberstehen, so dürfen wir unsre Verbindung auch nach außen vertreten. Sie wissen alle so gut wie nichts. Der tiefere Sinn unsrer Verbindung bleibt ihnen Geheimnis, er bleibt unser Besitz, unser Eigentum, unsre Zuflucht. Der schwerste Gang ist für Dich der in die Singstunde. Dort sind die Kameradinnen, die aus dieser Kameradschaft vielleicht ein gewisses Recht auf Mitteilung uns Aufklärung ableiten. Ich kann Dir hier auch wenig Ratschläge erteilen. Du mußt Deinem Wesen treu bleiben. Du kannst nicht einfach böse und gereizt um Dich schlagen, Du wirst aber jede ungebührliche Zudringlichkeit zurückweisen müssen. Aber da erteile ich schon Ratschläge. Ich an Deiner Stelle hätte es nicht schwer, weil ich von Natur zurückhaltend und verschlossen bin, zumal in persönlichen Dingen. Wenn Du meinst, daß diese Zurückhaltung auch zu Deinem Wesen paßt, dann empfehle ich Dir, sie in Zukunft zu üben. Sie macht den Menschen frei. Eine Einsicht scheint mir noch wichtig: So häßliche Züge und Formen der Klatsch, das Gerede und die öffentliche Meinung oft annehmen: sich ihnen nur schimpfend, bitter und gekränkt entziehen, bleibt ein Zeichen der Schwäche. „Selig, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt“, dieses Wort enthält eine tiefe Wahrheit.

Du sollst am Sonntag getrost Deinen Dienst tun. In die Kirche werde ich nicht mitgehen. Liebe [Hilde], wir werden künftig diese und jene Vorsicht außer Acht lassen dürfen. Aber in die Kirche gehen, und womöglich noch mit auf den Chor, das wäre jetzt eine Herausforderung aller Neugier, Zudringlichkeit und Empfindlichkeit (D.P.). Denke Dir aus, wir treffen nun auf dem Nachhauseweg der Reihe nach Herrn Bonitz, Dreschers Leute, Familie Graul, alles Bekannte, an denen ich nicht einfach vorbei gehen kann, deren Blicke alle Bericht und Rechenschaft heischen. [Hilde], das ist mir einfach unmöglich. Das muß diplomatischer eingefädelt werden, hier lassen wir die Zeit und den Klatsch ruhig erst ein wenig vorarbeiten und uns Arbeit abnehmen. Verstehst Du mich noch? Liebes!

Liebe [Hilde]! Ich kann mir nicht denken, daß unsere Freundschaft einmal ernstlich durch ein Mißverständnis gefährdet werden könnte. Zögernd wohl, aber doch mit dieser Gewißheit, schrieb ich im vorigen Briefe meine Gedanken zu Deiner Sorge nieder. Das ist mir heut deutlicher als noch vor 8 Tagen: Alle 4 Gründe, die ich anführte, liebe [Hilde], sind gleichstarke Sicherungen Ich verstehe Deine Sorge und bin erfreut über Deine Ansichten. Ich frage mich, wie Du zu dieser Sorge kommst. Sind meine Werte schuld? Gedanken und Vorstellungen umspannen auch dieses Letzte, ich wäre unehrlich, wenn ich das verhehlte. Und die Versuchung war groß genug, Du! Aber Du darfst mir glauben: ich dachte an nichts Böses. Wenn ich schreibe: „Ich will Dich noch viel lieber gewinnen“, dann soll das ja doch heißen, wir müssen uns noch viel näher kommen, geistig nämlich. Erst dann wären die Voraussetzungen erfüllt für die Feier des Lebens, bei der es ni[cht] einen Dieb und einen Bestohlenen geben darf, sondern an der beide mit voller Zustimmung bei vollem Bewußtsein teilnehmen müssen, wenn ein Segen darauf ruhen soll.

Möchtest Du mich noch ansehen, wenn ich dem ersten Kuß nicht noch ein paar (!) hätte folgen lassen? Du!

Du! [Hilde]! Ich freu mich auf das Küssen! Ich freue mich auf das Wiedersehen. Ich bin auch immer wieder voll Unruhe, Erwartung und Spannung, wie ich Dich antreffe, welchen Eindruck das Mädchen auf mich macht, das ich mir darauf ansehen will, ob es ganz und für immer zu mir gehören kann.

Meine liebe [Hilde]! Behüt Dich Gott!

Ich küsse Dich und grüße Dich recht herzlich

Dein [Roland].

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946