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[OBF-390105-001-01]
Briefkorpus

Bischofswerda am 4. Jan. 1939.

Meine liebe [Hilde]!

Herzlichen Dank für Ihre guten Wünsche zum neuen Jahr. Kam mein Neujahrsbrief rechtzeitig an? Heute ist Mittwoch. Ich warte ungeduldig auf ein Zeichen von Ihnen. Und ich weiß doch, daß Ihnen wenig Zeit bleibt zum Schreiben. Sind Sie wieder gesund? Ich habe jetzt soviel Zeit zum Warten. Ihre Bilder, die ich sonst auch am Sonntag über mit mir nehme, habe ich am 2. Feiertag in Lichtenhain liegen lassen. Nun muß ich mich an die beiden Briefe halten, den Geburtstagsbrief und den Weihnachtsbrief. Sie liegen im Kästchen verwahrt, jeden Tag lese ich einen von beiden. Sie haben mir viel Freude damit bereitet. Vielen Dank dafür, meine liebe [Hilde]. Es verlangt mich, Sie wiederzusehen. Es ist immer gutgegangen, wenn wir uns aller 4 Wochen trafen. Deshalb wollen wir es auch weiterhin so halten. Für den Fall, daß es bei dem Theaterspiel am 15.1. bleibt, mache ich folgenden Vorschlag: Sie besuchen mich in Lichtenhain Sonnabend u. Sonntag den 14. u. 15. Januar. Lassen sich Sonnabend freigeben (geht das?), fahren am Vormittag zu Hause weg und sind am Nachmittag bei mir, sodaß wir noch eine hübsche Wanderung uns vornehmen können. Am Sonntagabend bringe ich Sie nach Bad Schandau. Unser Märchenspiel ist eine so magere Sache, die mag ich Ihnen nicht empfehlen. Gefällt Ihnen der Plan? Haben Sie einen besseren Vorschlag? Voraussetzung natürlich, daß Sie wieder ganz gesund sind.

Sie müssen nun wieder an Ihre Arbeit, in den Fabriksaal, unter Menschen, zu denen Sie nicht passen. Es tut mir so leid. Was gäbe ich drum, wenn ich Sie von diesem Joch befreien könnte! Aber hier hilft kein Wehklagen. Ich wünsche, daß Sie trotzdem guten, frohen Mutes bleiben und jeden Morgen an die Arbeit gehen. Wenn wir nur stark bleiben, dann müssen uns alle Dinge zum besten dienen, dann können uns auch widrige Umstände nicht niederzwingen. Viel Frohsinn zu Ihrer Arbeit wünsche ich Ihnen. Rackern Sie sich nicht ab, denken Sie auch an sich.

Was wird er die vielen Tage anfangen? werden Sie sich fragen. Es gibt Menschen, die so zu Sklaven Ihrer Arbeit geworden sind, daß Sie mit einem Urlaub nichts Rechtes anzufangen wissen, die sich vor dem Urlaub fürchten. Diese Beamte, die krank werden und sterben, wenn Si sie in Ruhestand gehen. Auch um meinen Vater ist mir bange, wenn ich an seinen Ruhestand denke. Er ist so unruhig, nervös, er kann nicht über einer Woche nicht [sic] bleiben, sich auch einem Genusse nicht mehr ruhig und geduldig hingeben. Und ich muß mich selbst streng in Zucht nehmen, daß ich nicht nervös werde und dieser unfruchtbaren Unruhe anheimfalle. Ich war vor Jahren schon einmal unruhiger. Es ist besser geworden und soll noch besser werden. Mein jetziger Schulleiter ist mir ein warnendes Exempel. Der ist eines Tages am Ende. Im 1. u. 2. Berufsjahr ging es mir so: die ersten acht Ferientage war ich erschöpft und träumte von der Schule, die letzten [a]cht Tage wurden entwertet dadurch, daß man schon wieder an das kommende dachte. Jetzt vergesse ich die Schule binnen einem Tage. Erschöpfung ist freilich zu spüren: stumpf, unschlüssig, gleichgültig. Ich spüre es diesmal auch wieder daran: wie schwer es mir wird, einen Roman anzufangen, das ist, sich geduldig und ruhig sich der Führung des Dichters überlassen. Langeweile plagt mich nicht. Freilich, so, wie ich möchte, verlaufen die Ferien nicht. Und so nach meinem Wunsch und Plan wird das ja erst dann gehen, wenn ich mir selbst einen geordneten Hausstand gründen kann. Die Hoffnungen, die um diese Pläne kreisen, sind nicht gering. Und Sie sollen davon wissen. Sehnlich warte ich auf den Tag, von dem an ich täglich wenigstens eine Stunde, in den Ferien mehrere Stunden, mich der Musik widmen kann. Hier zu Hause steht das Instrument in einem Nebenzimmer, das besonders geheizt werden muß. Ein alter Wunsch ist es, mich mit den Werken einiger Philosophen eingehend zu beschäftigen. Dazu gehört ein Arbeitszimmer, in das man sich zurückziehen kann. Nein, vor den Ferien fürchte ich mich nicht. Und keine Bange, die bessere Ehehälfte soll darüber nicht zu kurz kommen, sie soll auch ihre Ansprüche anmelden dürfen, und geleitet von den Grundsätzen der Gleichberechtigung und Verträglichkeit wird dann schon eine Übereinkunft möglich sein. Ich habe mich auf dem Jahrmarkt des Lebens eben erst umgesehen und nach kaufenswertem Ausschau gehalten, nun will ich wählen und kaufen. Ehe und Familie sind heilige Ordnungen, und der Tag meiner Bindung schwebt mir vor als froher Tag eines neuen, guten Anfangs. Freilich mit einer guten Ordnung möchte ich meine Freiheit und Freizügigkeit vertauschen. Diese Freiheit lehrt auch manches Gute: Es gehört zu einer frohen Stunde nur wenig äußerer Reichtum. Besitz erfreut nicht nur, er belastet auch, und je mehr wir unser Herz daranhängen, desto mehr verlieren wir den Blick für das Wesentliche und Letzte. Und ich empfinde es zuweilen glückhaft — ein wenig Täuschung ist freilich dabei — daß meine Habseligkeiten in einem großen Reisekorb Platz finden.

Doch ich bin abgeschweift (Ich schreibe ohne Konzept).

Die erste Ferienwoche war unruhig. Wenn wir alle zu Haus sind, ist die Stube voll Menschen. Die Tante weilte zu Besuch bis zu Sylvester. Ihr Besuch erhöht die Feiertagsfreude. Bruder Soldat mußte am 3. Feiertag wieder abreisen. Den Sylvesterabend verlebten wir Stillvergnügt. Gegen 11 Uhr haben wir Blei gegossen (das ist nicht mein Betreiben). Wir nehmen das auch nicht ernst. Der Bruder war mit seinem Guß unzufrieden und hat ihn kurzerhand noch einmal eingeschmolzen. Mein Gebilde ähnelte einer Höhle, phantasiebegabte hätten wohl auch Rosen und Engel und Teufelchen darum erkennen können. An all den Tagen waren auch Bruder und Schwägerin bei uns. Der Bruder bestimmt dann mit seinem Wesen die ganze Gesellschaft. Auch ich muß dann meine Eigenart aufgeben, es ist wie verhext, und es erholt und entspannt. Die Freude auf die zweite ruhige Woche war darum umso größer. Nein, wörterlicher Freund lud mich ein, ich habe abgeschrieben. Am Neujahrstag waren wir zu dritt (Sie können sich denken) auf dem Picho, einem hübschen Berg mit Baude. Ich wünschte Sie an meiner Seite.

Und nun vergeht die 2. Woche in pedantischem Gleichmaß der Tage, das erholt am besten. Um 9 Aufstehen. Aber pünktlich vor 6 bin ich schon einmal munter und dann denke ich an Sie bis um 7 ganz fest, dies und das und mancherlei. Dann mache ich mich ein wenig um die Hauswirtschaft verdient, hole Kohlen, feure an.

Und dabei wird es ½ 11, ehe ich einmal die Tasten anrühren kann. Für den Nachmittag habe ich mir einen Spaziergang von wenigstens einer Stunde verschrieben. Dann warten Zeitung und Bücher auf einen Leser, das Radio auf einen Hörer. Das alles mit Maßen gebraucht, erholt und regt an. Ich wollte Ihnen gerne ein Buch schenken. Für den Geburtstag weiß ich nun eines. Der Schwägerin schenkte ich einen Band Novellen „Der Schleier” von Emil Strauß. Sie waren mir empfohlen, indes kannte ich sie nicht. Nun habe ich sie selbst gelesen. Der Dichter spricht darin manches aus, was auch ich dachte und mich bewegte. Ich habe mir Raabes Werke (15 Bände) gekauft, Wilhelm Raabe ist ein Dichter, der von seinem Leser viel Geduld und Einfühlung verlangt, ihn dann aber auch reich beschenkt. „Der Hungerpastor”, diesen Roman haben Sie vielleicht schon nennen hören. Und jetzt erhebe ich scherzhaft drohend den Zeigefinger: Liest meine [Hilde] auch alle Tage ein Stück? Nehmen Sie sich doch Zettel und Bleistift zur Hand, wenn Sie lesen, was Sie nicht verstehen, Ausdrücke und Anspielungen, schreiben Sie sich auf. Wir können uns dann darüber unterhalten, wenn wir uns treffen.

Heute endlich, Donnerstag, kam Ihr langer, lieber Brief. Recht herzlichen Dank. Ich war nun doch etwas in Sorge und hatte also damit auch nicht ganz unrecht. Und nun muß ich zuerst einmal die Stirn runzeln: Bitte, nicht leichtsinnig mit der Gesundheit umspringen. Ein Rückfall ist meist schlimmer. Ich fühle mich ein [Neue Seite] ein wenig mitschuldig; denn diese arge Erkältung liegt Ihnen seit unserem letzten Sonntag in Gliedern. Ein Glück, daß es so abgegangen ist. Wir treffen uns nun erst am 22. Januar. Den Plan im einzelnen machen wir von der Witterung abhängig. Nun weiterhin gute Besserung. Nicht leichtsinnig sein! Sie haben also mit mir richtig 14 Tage Ferien gehalten. Ich könnte mich darüber freuen, wenn Sie bei voller Gesundheit gewesen wären. Ich wüßte gern noch ein paar Einzelheiten darüber, wie Sie diesen unfreiwilligen Urlaub verbüßten.

Bahn und Post haben es dies Jahr nicht schaffen können. Ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt, daß Sie Ihre Geschenke rechtzeitig besorgt haben. Wie mag es mir zugegangen sein, daß mein Paket pünktlich ankam. Daß der Zufall meinem Geschenk schnellere Flügel gab, das freut mich ja nun noch nachträglich. Ich wollte Ihnen doch recht viel Freude machen und lieb zu Ihnen sein, ich hatte es auch nötiger als Sie, liebe [Hilde]. Ihr Paket habe ich heimlich ausgepackt in meiner Schlafkammer. So kam es, daß ich einige Herrlichkeiten erst nach 2 Tagen entdeckte, ich hatte sie im Halbdunkel übersehen, den Pfefferkuchen, die Äpfel und Nüsse. Daß mein Freßteller plötzlich wieder gefüllt war, erregte frohes Aufsehen, und es stellten sich bald Liebhaber und Mitesser ein. Vater erhielt einen erzgebirgischen Nußknacker zum Geschenk, hatte aber nicht eine einzige Nuß auftreiben können. Nun bekam er (der Nußknacker) Beschäftigung, und so haben von Ihren Geschenken alle etwas abbekommen.

Ihrer Entscheidung stimme ich zu. Ich erkenne dankbar, wie Sie sich meinetwegen bemühten. Es ist ein ungewisses Lob, das Sie ziehen wollten. Ich hätte die Verantwortung für diesen Schritt nicht tragen können. Wir wollen vorerst noch zusehen, wie es das Schicksal mit uns vorhat. Ich bin zuversichtlich. Es überströmt mich ein tiefes Gefühl des Glücks bei dem Gedanken, daß ein großes, tapferes Mädel sich an mich lehnt, daß es gläubig und liebevoll mir ins Auge schaut. Wenn wir einander nur erst gewiß sind, liebe [Hilde], dann soll es keine Schwierigkeit und Sorge geben, die wir in guter Kameradschaft nicht zwingen könnten.

Nun mit frohem Mut voran! Liebe, tapfere [Hilde]! Morgen muß ich — Hosen bügeln und Koffer packen. Das Schatzkästchen muß mit auf Reisen.

Bitte grüßen Sie Ihre Eltern.

Ich drücke Ihre liebe Hand ganz fest voll Hoffnung und Vertrauen, meine liebe [Hilde], und grüße Sie recht herzlich

Ihr [Roland].

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946