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[OBF-381230-001-01]
Briefkorpus

Bischofswerda am 30. Dezember 1938.

Meine liebe [Hilde]!

Gestern kam Ihr Paket an. Heute zieren nun auch Ihre Gaben meinen Gabentisch. Sie zieren ihn, liebe [Hilde]. Ich habe mich sehr gefreut über Ihr Geschenk. Was haben Sie sich für Ausgaben gemacht! ‚Die gute Tante’ weilt zu Besuch bei uns. Sie ist ganz weg in das schöne Kästchen. Ich schrieb Ihnen schon einmal: „Ich muß die Schreiberin dieser Briefe liebhaben.” Die Briefe von meinem lieben Schatz sollen zuerst darin Platz finden, und es wird also ein richtiges Schatzkästlein sein. Ich weiß: auch Sie schenkten, um mir Freude zu machen, ohne Berechnung. Wenn uns uns[e]re Geschenke auch nicht verpflichten, wenn sie auch das Schicksal nicht hemmen können, so bekräftigen sie doch, was wir einander versicherten: daß wir uns ernst prüfen wollen. „Lassen Sie mich nicht allein!” so baten Sie mich; „Lassen Sie mich nicht so leicht los!” so bat ich Sie.

Vielen herzlichen Dank, liebe [Hilde]!

Noch 2 Tage im alten Jahr. Es ist ein eigenartiges Gefühl.

Es ist uns nun so vertraut geworden, das alte, es birgt kaum noch Geheimnisse, wir kennen es, wir lieben es mit dem Lieben und Leiden, das es uns brachte, und im Angesicht des langen, neuen, unbekannten fühlen wir uns darin geborgen. Es war ein gesegnetes Jahr trotz allem. Es brachte mir Ihre Freundschaft.

Am 6. u. 13. Mai kamen Ihre Briefe. Ich mußte Ihnen wiederschreiben. Zum einen fühlte ich mich verpflichtet, Ihnen zu helfen, zum andern schien es mir ein Wink des Schicksals, den ich nicht übersehen wollte.

Und dann vertraute ich mich diesem jungen Mädchen an, vielleicht gerade weil es so jung war, vertraute mich überhaupt zum erstenmal jemandem an. Wenn ich damit eigentlich auch nur Ihr Vertrauen erwiderte, so war es doch ein Schritt ins Ungewisse. Was leitete mich dabei?

Der Altersunterschied macht mich nicht bange. In meinem Streben und Sehnen bin ich noch jung. Sie sind die erste, der ich mich zuwende. Ich wende mich an Sie in gutem Glauben und mit der hohen Meinung vom anderen Geschlecht, die noch nicht enttäuscht wurde.

Ich gehe nun freilich mit ganzem Ernst an die wichtigste Unternehmung des Lebens. Sie wissen, daß ich deshalb nicht geringere Erwartungen von diesem Bund hege als vielleicht ein Stürmer und Dränger, daß meine Hoffnung und Sehnsucht nach einem tiefen und innigen Verständnis deshalb nicht weniger groß ist.

Und es braucht kein Fehler zu sein, wenn ein junges, noch unfertiges Menschenkind sich anlehnt an einen älteren, fertigeren Menschen. S Ich sagte Ihnen schon: Ich bewundere Ihren Mut, mit dem Sie sich mir näherten. Liebe [Hilde], Sie mußten das erste Wort sprechen, ich hätte Sie um Liebe nie und nimmer gefragt.

Ich empfinde es schon manchmal, daß Sie noch jung sind und unfertig. Aber das ist ja kein Fehler, ja es ist vielleicht Ihr Gewinn; denn nun sind Sie noch biegsam und bildsam. Bis zu 21 Jahren wächst ein Mädchen. Es ist etwas an dieser Zahl. Sie wachsen noch, liebe [Hilde], und ich darf ein wenig der Gärtner sein, der dieses Wachstum überwacht und sich darum sorgt. Wenden Sie sich an mich als Ihren Beschützer und Berater ohne Scheu. Sie sollen immer wieder in mich dringen, sollen mich immer wieder zwingen, mich Ihnen mitzuteilen, ich gebe Ihnen dabei mein Bestes. Glauben auch Sie daran, daß Sie noch wachsen. Denken und fühlen Sie sich immer mehr ein in die Rolle, die Sie an meiner Seite spielen müßten. Ich glaube an Ihre Liebe, vertraue Ihrer Kraft.

Wir wollen nichts übereilen, wollen uns nicht drängen, wollen uns mit dem Gedanken befreunden, die Prüfung kann auch das ganze nächste Jahr dauern. Auch ich brau[c]he Zeit, mich in meine Rolle zu vertiefen.

Und noch eines, liebe [Hilde], aber das darf Sie nicht traurig stimmen. Bitte reichen Sie mir Ihre liebe Hand recht oft. Und in den frohesten Stunden wollen wir auch Wang an Wange lehnen, es tut mir so wohl.

Aber küssen — liebe [Hilde], verstehen Sie mich jetzt recht — darf ich Sie noch nicht. Ich bringe es noch gar nicht und ich will es auch noch nicht. Ich bin Ihnen gar nicht bös, und am nächsten Mal dürfen Sie sich noch einen nehmen, ich will auch gut aufpassen, aber dann erst wieder vielleicht zum nächsten Geburtstag.

Mit diesen Aussichten und Vorsätzen dürfen wir mutig und zuversichtlich dem neuen Jahr entgegensehen.

Eines habe ich in diesem Jahre erfahren, und eines hat sich in diesem Jahre bewährt, was ich gleich am Anfang erkannte: Sie sind so gut, so gütig. Güte ist eine seltene Tugend. Sie bestimmt Ihr ganzes Wesen. Gütige Menschen sind reiche Menschen, sie wollen schenken und sind glücklich, wenn sie andere beglücken können. Gütige Menschen sind immer im Angriff: Sie warten nur auf eine Gelegenheit zu beglücken und zu schenken. Gütige Menschen sind wehrlos gegenüber dreisten, eigennützigen und brutalen Menschen. Güte ist eine Tugend, die das Alter auszeichnet. Diese Tugend macht Sie älter, sie überbrückt den großen Altersunterscheid. Ich weiß, daß ich mich an Sie wenden kann wie an meine Mutter, daß ich bei Ihnen reichen Trost finden könnte. Ihre Güte war der Schlüssel zu meinem Vertrauen. In Ihrer Liebe zu mir ist viel Güte. Sie wollen mich beschenken vor allen andern, meine liebe, gute [Hilde]! Ich weiß nicht, wie ich das verdiene. Gütige Menschen sind immer im Angriff, sagte ich. Die meisten Mädchen befinden sich in der Verteidigung. Sie rüsten für den Angriff eines Mannes: Sie machen sich schön, zieren sich, tun sich, spielen sich auf, wollen etwas scheinen. Sie sind anders.

Die Güte steht in Ihrem Gesicht geschrieben, auch für andere zu lesen. Ihre Altersgenossen ziehen Sie ins Vertrauen und fragen Sie um Rat. Ungelegenheiten hatten Sie schon, weil Sie so gut waren. Wenn ich Ihr Wesen mit Worten umfangen will, dann sage ich: Meine liebe, gute [Hilde]! Ich schätze diese Tugend noch gar nicht genug an Ihnen, weil ich selbst nicht so gütig bin. Aber ich will um Ihre Güte dienen. Und Sie sollen streng mit mir sein und sollen sie mir versagen, wenn ich es verdiene. Ich will dann nicht sagen: sie liebt mich nicht mehr; sondern will sagen: was habe ich versäumt?

Von ganzem Herzen wünsche ich nun, Gott der Herr möchte Sie mir erhalten im neuen Jahr, Ihre Eltern; er möchte Sie mit neuer Kraft ausrüsten und gesund erhalten, er möchte unsre Freundschaft segnen.

In Dankbarkeit, Hoffnung und Vertrauen drücke ich Sie ganz fest an mich, meine liebe, gute [Hilde], und grüße Sie recht herzlich

Ihr [Roland].

Ich bin schon am 3. Feiertag früh nach Bischofswerda zurück. Das Theaterstück soll am 15. Jan. wiederholt werden. Das ist der Sonntag, an dem wir uns treffen wollten. Es bestehen 2 Möglichkeiten: Sie besuchen mich am 14.[,] 15. in Lichtenhain, oder wir treffen uns erst am 22. Jan. 1939. Sie dürfen wählen.

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946