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[OBF-380818-001-01]
Briefkorpus

16.8.38

18.8.38

Liebes Fräulein [Laube]!

Vielen Dank für Ihre lieben Zeilen. Ich muß richtigstellen: Ganz einsam bin ich nicht mehr. Es ist jemand, der sich um mich kümmert. Sie kennen diesen Jemand. Der Gedanke an diese liebe Person, daß ich ihr alles schreiben und mitteilen könnte, daß sie mir bleibt nach dem Verlust, sie [sic] haben mich leichter tragen lassen, das dürfen Sie glauben, sie [sic] haben mir auch die Verpflichtung auferlegt, über dem gegenwärtigen Schmerz nicht die Sorge um die Zukunft und die eigene Gesundheit zu vergessen.

Es wäre auch gar nicht im Sinne unsrer Großmutter, wollten wir nun untätig den Kopf hängen lassen; es ist auch nicht meine Art. Das haben Sie nicht ganz richtig aufgenommen. Ich schrieb wohl, „Es ist mir in letzter Zeit recht deutlich geworden, daß ich von uns Enkeln der Großmutter am nächsten stand.” Damit sollte nicht gesagt sein, daß sie mich den andern vorgezogen hätte, Ihre größere Fürsorge war jeweils bei dem Bedürftigeren, zuletzt bei dem Soldaten. Ich meinte, daß ich ihr im Wesen am meisten verwandt bin.

Ein Hauptzug im Charakter unsrer Großmutter: Sie war ein Tat- und Willensmensch (wenn Sie in Ihrem astr. Buch einmal nachlesen wollen, Geburtstag 20. Juli), keine betrachtende und beschauliche Natur. Hinter all ihren Gedanken und Worten lauerten Entschlüsse und Befehle.

Großmutter war dazu eine Herrennatur, sie war eigensinnig, rechthaberisch, herrisch. Ich deutete schon einmal an, welche Rolle sie als „Meestern” spielte. Meine Mutter ist bis zuletzt von ihr bevormundet worden. Wir Jungen ha[ben] unter ihrer Fuchtel gestanden, und es ist manch lautes Wort gefallen. Großmutter wollte ihren Willen durchsetzen. Es kam manchmal zu Auseinandersetzungen; dabei war sie oft ungerecht, mit guten Gründen ließ sie sich von ihren Vorsätzen nicht abbringen. Aber soviel sich sie auch stritt und an uns mäkelte — gelobt hat Sie uns kaum — sie wollte unser Bestes, freilich nach ihrem Kopfe. Wir denken noch mit einigem Schrecken daran, was Großmutter an Bruders Heirat und Braut alles auszusetzen fand, ohne rechten Grund, [u]nd daß wir immer in Sorge waren, wenn sie zu Besuch dawar [sic], Großmutter möchte lospoltern und schlimmes Zerwürfnis stiften; meist ließ sie sich an solchen Tagen aus Unmut gar nicht sehen. In letzter Zeit war sie lieb und nett zur Schwägerin.

Das herrische Wesen in seiner guten Seite zeigte sich in der großen Umsicht und Fürsorge, mit der Großmutter schaltete und waltete. Es prägte sich [a]uch in ihrem Gesicht aus und machte auf Fremde großen Eindruck. Es waren etliche Gäste unsres Hauses, Männer, die sich vor unsrer Großmutter fürchteten.

Diesem Wesen, sagte ich, fühle ich mich verwandt. Um gleich beim letzten anzuknüpfen, es ist mir von etlichen weiblichen Wesen zu Ohren gekommen, daß sie sich vor mir fürchteten.

Daß ich eine Herrennatur habe, äußert sich bei mir in dem Streben nach Freiheit, Unabhängigkeit, ein wenig Eigentum und darin, daß ich mir selbst ein Urteil bilden will.

Es kann mir passieren, daß ich 14 Tage lang nicht nach Hause denke. Wo ich eben bin, bin ich ganz mit allen Sinnen. Ich bin auch weniger eine betrachtende Natur, wenig phantasiebegabt, ich rechne mit der Wirklichkeit: das mögen Züge sein, an denen man auch bei mir den Willensmenschen erkennen kann[.] Mit mir zankte Großmutter kaum, sie respektierte meine Selbständigkeit und meinen Eigensinn, hatte Vertrauen zu meinen Unternehmungen. Ausse[t]zungen und Tadel erfuhr ich meist nur von dritter Person. Das scheint mir ein Beweis für die Verwandtschaft unsrer Naturen.

Da bin ich auch schon bei Ihrem Horoskop. Nach dem Taschenkalender 1938 der Girokasse Oberfrohna zähle ich zu den Steinbockmenschen (22. Dez. - 19. Jan.), das würde all Ihre Berechnungen über den Haufen werden. Auch Sie sind nach diesem Kalender an der Grenze geboren (21. März - 19. April Widder). Diese Grenzschwierigkeiten geben natürlich schon zu denken. Ich sagte Ihnen schon, was ich von [a]ll dem halte: Ohne Zweifel unterliegen wir Menschen auch dem Einfluß der Gestirne  (wie ja unsrer ganzen Umwelt), (inweiwe) [sic] inwieweit, das wird nie ganz erforscht werden. Ich werde nicht vergessen, daß Großmutters Ableben im Zeichen der Kulmination (= Höhepunkt) des größten Planeten, Jupiter, stand. Ich erzählte Ihnen von dem großen Stern. Nachts um 12 stand er genau im Süden, ich habe mehrere Nächte [n]ach ihm ausgeschaut.

Im übrigen paßt auf all das Orakeln in die Zukunft Schillers Wort [Der Taucher]:

 

Und der Mensch versuche die Götter nicht und begehre nimmer und nimmer zu schauen, was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.


Wer immerzu ins Dunkle und Ungewisse grübelt, dessen Tatkraft wird gelähmt. Wir sollen unser Leben beobachten und werden finden, daß es über alle menschlichen Berechnungen wunderbar und weise sich fügt nach einem göttlichen Plan.

Es ist ein alter Hang der Menschen, sich zu messen und zu bespiegeln. Es ist so schwer, sich se[lbs]t kennen zu lernen. Und das ist ein Gewinn jeder tieferen Freundschaft, daß man am andern sich selbst kennen lernt.

Mein Horoskop bringe ich mit, wir können uns einmal davon unterhalten, bringen Sie nur auch Ihres mit.

Sie schrieben, daß Ihnen eine Art Lexikon (‚Allbuch’ liest man jetzt manchmal verdeutscht) in die Hände gefallen ist. Gebrauchen Sie es nur richtig: Schlagen Sie nach, wenn Ihnen etwas aufstößt, nicht Kraut und Rüben durcheinanderlesen!

Lettner gibt es auch anderswo. Ein hochberühmter, [sic] Holzschnitzerei aus dem 13. Jahrhundert, befindet sich in der Schloßkirche zu Wechselburg, ein weltberühmter im Naumburger Dom. Im nächsten Brief hoffe ich Ihnen den Tag unsrer nächsten Begegnung bestimmt sagen zu können. Sie können mit dem 28. Aug. rechnen.

Zum Schlusse mag eine Gedanke stehen, den ich in [d]er letzten Religionsstunde den Kindern nahezubringen versuchte:

Sonnenschein und Regen müssen über das Land gehen, wenn etwas wachsen soll.

Gott schickt Freud und Leid, damit die Menschen wachsen, damit göttliches Wesen unter ihnen wohnen bleibe; denn aus dem Leid wächt die Sehnsucht, die Sehnsucht aber ist die Mutter aller großen Gedanken und Werke. Grüße Ihren Eltern.

Seien Sie selbst recht herzlich gegrüßt

von Ihrem [Roland Nordhoff].

 

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Kommentare

Hier wäre der Moment, an dem ich an Hildes Stelle überlegen würde, was ich eigentlich von Roland will!!!! Dies er etwas zwanghafte, eher verklemmt scheinende Mann, der soviel darauf gibt sich gesellschaftskonform zu verhalten, will auf einmal "der Chef" sein, und zwar begründet durch seine "Herrennatur". Very creepy!

Einordnung
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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
Gesendet nach
Erwähnte Orte
Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946