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[OBF-380812-001-01]
Briefkorpus

Lichtenhain am 11.8.1938

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Liebes Fräulein [Laube]!

/Das waren ein paar schwere Tage. Unsre Großmutter ist mitten aus ihrem Sorgen und Schaffen abgerufen worden. Gott gab ihr ein gnädiges Ende.

Vorige Woche ging ich baden, Dienstag und Mittwoch in Bischofswerda, Donnerstag und Freitag in Großröhrsdorf. Großmutter zeigte sich in den letzten Tagen mehr als sonst abgespannt, legte sich zuweilen nieder und bekam schwer Luft. Wir schoben es auf die Hitze. Freitag war sie schon früh 6 Uhr aufgestanden, hatte Feuer gemacht, aufgewaschen und ging dann erschöpft in ihre Kammer. Ich hatte vor, ins Bad zu fahren und erst gegen Abend wiederzukommen. Großmutter stöhnte, sodaß meine Mutter sagte: Wenn das nicht besser wird, muß ich nach dem Arzt schicken. Ich bin indessen losgefahren. Als ich abends nach Hause kam, lag Großmutter zu Bett, rang nach Luft, stöhnte und klagte über Leibschmerzen. Sie hatte zu Mittag noch aufgewaschen, sich am Nachmittag gelegt und zeigte Herzangst und Atemnot, sodaß meine Mutter nach dem Arzt schickte. Der kam abends noch einmal, gab ihr 2 Spritzen, eine zur Herzstärkung, eine zur Beruhigung. Bis früh 4 Uhr schlief sie darauf, dann begann sie wieder zu wirtschaften. Und nun kam das Schwerste, das Erschütternde, das Furchtbare: Großmutter hilflos mit dem Leben ringen zu sehen. Wir haben sie fast nur stark gesehen, sie ließ sich nicht werfen. Sie kannte nur die Sorge um andere, um uns Enkel zum[al]. Sie hat noch am Donnerstag ein Paar Socken zu Ende gestrickt. Sie sollten sehen, mit welcher Liebe und Sorgsamkeit sie mich ausgestattet hat. Da steht auf dem Boden eine Kommode, darin liegen sorgsam gebündelt und beschriftet Sommersocken, Wintersocken, Taschentücher, Hemden und was weiß ich sonst noch. Dieselbe Ordnung und Sorgfalt in meinen Kommodenfächern unten — und eifersüchtig wachte sie darüber, daß niemand an diese Ordnung tastete.

Da stand ich nun mit meiner Mutter — wir k[o]nnten nicht helfen. Ich habe meine Mutter bewundert, wie sie es ausgehalten hat, bis zuletzt um die Großmutter zu sein. Am Sonnabend früh fragte sie nach mir. Ich ging in ihre Kammer. Sie gab mir die Hand und sagte: „Es ist gut." Das waren ihre letzten Worte an mich.

Sie war ganz klar bis zuletzt. Am Sonnabend erwarteten wir Vater und Bruder Soldat. Großmutter hat wohl gewußt, daß nun alle [b]eisammen waren, hat aber die beiden nicht mehr zu sehen verlangt. Hatten wir, auch der Arzt, am Sonnabend noch nicht alle Hoffnung aufgegeben, so war uns doch klar, daß es ernst war und daß es sich nun bald entscheiden mußte; denn Großmutter aß nicht mehr und die Kräfte schwanden ihr. Nach einer unruhigen Nacht begann am Sonntag vormittag der letzte Kampf. Wir holten den Arzt noch einmal, der gab noch einmal 2 Spritzen. Darauf schlief sie ein. Wir atmeten auf und stärkten uns. Was wird werden, wenn sie wieder erwacht? Das fragten w[ir] bang, furchtsam, das Warten war unheimlich, 4 Uhr, 6 Uhr, 8, 10 .. immer noch lag Großmutter unbeweglich, atmete hastig und flach. Ich habe gebetet: Wenn es nun zu Ende gehen soll, Gott möchte es gnädig machen.

Es waren furchtbare Stunden. Kaum litt es mich im Haus. Abends um 10 schlich ich in meine Kammer — Großmutter schlief noch immer — und wachte nicht mehr auf. Meine Mutter kam gerade dazu — es war um Mitternacht — als sie aushauchte — still und friedlich, Gott sei Lob und Dank! Diese 4 Tage haben mich mächtig mitgenommen. Ich habe in diesen Tagen gespürt, daß ich von uns Enkeln der Großmutter innerlich am meisten verwandt war. Wie habe ich mich in diesen Tagen nach einem Menschen gesehnt, an den ich mich anlehnen, mit dem gemeinsam ich tragen könnte, Vater und Mutter, Bruder und Schwägerin — ich stand allein. Ich danke es dem Bruder, daß er mir — ganz absichtlich — mit seiner aufgeschlosseneren Art über die dunkelsten Stunden hinweghalf.

Jetzt bekommt auch die mißglückte Harzreise ihren Sinn. Denken Sie nur, der Bruder kehrte von seiner Mainreise auch vorzeitig zurück — mit einem verrenkten Unterarm: Großmutter hat uns heimgerufen zu ihrem letzten Gang. Er hat während einer Rast am Main im Übermut eine Eiche erklettert, ein morscher Ast hat nachgegeben, und das Unglück war fertig. Wir sagten es dieser Tage: Was ist nicht alles auf Großmutter eingestürmt die letzte Zeit — und sie machte sich Sorgen um alles: um die Politik, die Versetzung, ich krank nach Hause (vor 3 Wochen hat sie mich noch umsorgt), Bruder mit dem Arm in der Binde — es war zu viel.

Sie merken die andere Feder, ich bin wieder zu Hause, von der Einäscherung zurück. Lassen Sie sich durch das Vorstehende nicht schrecken — es ist überstanden, und indem ich es für Sie ni[ed]erschrieb, ist mir leichter geworden.

Am Donnerstag, gestern, erreichte mich Ihr Brief. Ich mag heute nicht näher darauf eingehen, Sie werden verstehen. Ich habe eben nach den beiden Liedern gesehen und sie Ihnen aufgeschrieben. Ich hätte kaum mehr daran gedacht, es freut mich, daß sie sich ihrer erinnerten. Beim Niederschreiben wird deutlich, daß die Dichtung allein (zuma[l] „an die Musik") wenig sagt, und daß man gewöhnt ist, sie in Verbindung mit der Vertonu[ng] zu sehen, besser zu hören. Das Lied „Heimliche Liebe” erwähnte ich im Zusammenhang mit Hamsuns Brief. Es enthält in seiner Kürze eine Geschichte, die einen Schaudern macht: Zwei Menschen, die zusammengehören, leben aneinander vorbei.

Der Wernigeroder Markt mit seinem Brunnen und mehr noch mit seinem Rathaus ist mir gut in Erinnerung.

Ich denke daran, wann wir uns wieder treffen können: Unser Schulfest ist verschoben worden wegen der Klauenseuche. Soweit ich es übersehen kann, würde von mir aus nichts im Wege [s]tehen, wenn wir uns am Sonntag, d. 28. Aug. treffen.

Nun seien Sie recht herzlich gegrüßt

von Ihrem [Roland Nordhoff].

 

An die Musik
Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,
wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,
hast du mein Herz zu warmer Lieb entzünden,
hast mich in eine beßre Welt entrückt!
Oft hat ein Seufzer, deiner Harf entflossen,
ein süßer, heiliger Akkord von dir
den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen,
du holde Kunst, ich danke dir dafür.

 

Heimliche Liebe
1 [*]
Er schlich sich die Wände entlang —
sie lustig im Tanze sich schwang.
Ihr Auge so hell
lacht manchem Gesell —
ihn wollte das Herz schier erstarren,
doch — das hat niemand erfahren.

2 [*]
Er kam um zu scheiden ins Haus,
sie triebs in den Garten hinaus.
Sie weint und sie weint,
zu sterben sie meint,
sie hatt' ihn geliebet seit Jahren,
doch — das hat niemand erfahren.


3 [*]
Ihm wurden die Jahre zur Qual.
So kehrte er wieder einmal.
die hatte es gut,
in Frieden sie ruht,
ihr Herz tät sie treu ihm bewahren,
doch — das hat niemand erfahren.

[ * eingekreist]

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Ausschnitt aus dem Brief.

Ba-OBF K02.Pf1.380812-001-01c.jpg. Ausschnitt aus dem Brief.

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946